Gurkiporn #10: Wie man Kinder unglücklich macht

Intention meiner Arbeit ist es nicht nur, Frauen bewusst zu machen, dass sie ein Hirn haben, dass sie selbst einsetzen können, sondern auch zu verhindern, dass sie das, was sie zuvor ohne Hirnnutzung gemacht haben, an ihre Kinder weitergeben. Als Einzelkämpferin an der Front, ist das natürlich ein Himmelfahrtskommando.

Ich fürchte nämlich, dass die Fitnessszene hier ein großes Problem produziert, dass langsam immer größer wird und nicht mehr aufzuhalten ist, da es zu ihrer Geschäftsgrundlage geworden ist, nachdem man entdeckt hat, dass sich mit Frauenthemen eine Goldgrube aufgetan hat.

Die Goldgrube besteht darin, dass sich Frauen durch den Konsum des Fitnessmarketings erstmal selbst kaputt machen. Weil sie dann kaputt sind konsumieren sie in ihrer Verzweiflung noch mehr Fitnessmarketing, das ihnen verspricht, sie wieder gesund zu machen, was es aber auch nicht tut, sondern neue Probleme produziert. Ihr Unterbewusstsein ist durch den Marketingoverkill, so geprägt ist, dass sie dies durch unbewusste Handlungen, Verhaltensweisen und Aussagen dann an ihre Töchter weitergeben. Die Töchter spiegeln dann ihre Mütter und springen ebenfalls in die Goldgrube hinein.

Die Auswirkungen spüre ich bereits jetzt bei meiner Arbeit, denn bei immer mehr Klientinnen, treffe ich auf Essstörungen durch Abnehmversuche in der Familie und eindeutige Muster, bei der die Tochter, die Geschichte der Mutter weiterlebt, es aber selbst nicht merkt, weil sie es gar nicht anders kennt. Die Prävalenz von Essstörungen hat sich im Zeitraum von 2000-2006 im vergleich zu 2013-2018 mehr als verdoppelt (Galmiche et al., 2019). Und dies obwohl wir Menschen ja so schlau sind und immer mehr über die Details einer “gesunden” Ernährung und mit so viel Science um uns schlagen, wie nie zuvor. Irgendwas läuft da schief.

Da sich die Diät- und Fitnesskultur in den letzten Jahren immer mehr verbreitet hat und sich das damit kommunizierte Frauenbild, das Verhalten, welches von einer Frau erwartet wird und die Reaktionen darauf, in den Köpfen von Frauen UND Männern bereits manifestiert hat, ist es kaum noch zu verhindern, dass sie diese Prägung an Kinder unbewusst weitergeben.

Ich merke es allein daran, dass selbst meine Kollegen nicht mal sehen, dass das Problem direkt vor ihrer Nase ist, weil es für sie selbst schon “normal” ist.

Wenn kleine Mädchen überall medial mit Bildern von Frauen überflutet werden, die nichts anderes als “gefallen wollen” im Sinn haben und kleine Jungs lernen, dass dies “normale” Frauen sind, wird dies zu ihrem normalen Weltbild.

Ob das aus gesellschaftlicher Perspektive so segensreich ist und ob sich so, eine Kultur der Dichter und Denker “fortsetzen” kann, ist eine Frage der gesellschaftlichen Werte und der wirtschaftlichen Zukunft.

Die andere Frage ist, wie sich dies auf die Gesundheit der Frauen auswirken wird, denn wenn sich Mädchen bereits vor oder während der Pubertät chronisch unterernähren (das schießt auch einseitige Ernährung ein) wird dies Folgen haben.

Wenn ein Mädchen mitten in der Pubertät in einem chronischen Defizit lebt, sich kaputt trainiert, weil sie stets von dem Bewusstsein getrieben wird, dass sie nicht gut genug für die Welt ist, wenn ihr Körper sexuell nicht attraktiv genug ist, werden wir nicht nur mit mehr Ess- und Zyklusstörungen zu kämpfen haben, sondern auch mit einer Zunahme emotionaler Instabilität und Persönlichkeitsstörungen, sowie Stoffwechselerkrankungen. Denn Sexualhormone, Stoffwechsel, Essverhalten, Zentrales Nervensystem und Neurotransmitter hängen alle zusammen. Vereinfacht gesagt, ist die Sexualfunktion abhängig von der Neurobiologie.

Wenn wir durch kurzsichtiges Fitnessmarketing Frauen dazu bringen, einen Lebensstil zu übernehmen, der ihre Neurobiologie völlig aus der Balance bringt, brauchen wir uns auch nicht zu wundern, dass wir im Fitnessbereich immer öfter über PCOS, Amenorrhoe, psychische Störungen etc. reden, obwohl es doch ursprünglich mal um Training und Ernährung gehen sollte.


Ich denke, dass dieser krasse Trend zur Diskussion um hormonelle Probleme bei Frauen, nicht nur dadurch zustande gekommen ist, dass hier endlich das Bewusstsein dafür geschaffen wurde, sondern, auch, dass hormonelle Probleme durch die Fitnesskultur tatsächlich zugenommen haben.

Frauen diäten und trainieren heutzutage mehr, länger und intensiver, weil die Anforderungen an ihren Körper härter geworden sind. Noch nie musste eine Frau deutlich ausgeprägte Muskulatur bei einem so geringen KFA haben. Noch nie versuchte die Frau im Alltag, auf Dauer einen Lebensstil aufrechtzuerhalten, den selbst Wettkampfathletinnen eigentlich nur kurzfristig halten. Etwas, das völlig entgegen der Natur des weiblichen Körpers steht, vielmehr sogar ein gesundheitliches Risiko für sie darstellt.

Allein die Tatsache, dass wir uns solche Risiken leisten können und Frauen sich unfruchtbar hungern müssen, um gesellschaftlich akzeptiert zu werden, zeigt, dass wir in einer Wohlstandsgesellschaft Leben.

In armen Ländern würde niemand auf die Idee kommen, so etwas zu tun, mehr Geld für Produkte auszugeben, die ihm helfen, weniger Kalorien zu sich zu nehmen, die eigene Gesundheit zu gefährden und weniger Energie für die Arbeit und den Alltag zu haben.

In armen Ländern brauchen die Menschen Kalorien, denn sie müssen hart arbeiten, können sich nicht leisten gesundheitlich auszufallen oder wählerisch zu sein. Sie brauchen Energie, weil sie überleben müssen. In reichen Ländern, meidet man Energie, weil man zu viel davon hat und sich mit Dingen beschäftigt, die nicht viel Energie kosten. Sich um seine Bjuti, Datingapps, Insta und den nächsten Urlaub zu kümmern, kostet eben weniger Energie, als den ganzen Tag auf dem Feld zu arbeiten oder sich mehrere Stunden am Tag konzentrieren zu müssen. In sehr armen Ländern weinen Frauen, weil ihr Kind vor dem Hungertod steht und in reichen Ländern weinen Frauen darüber, dass sie nicht genug hungern können. Das sind doch mal Probleme.

Ist es nicht paradox, dass wir in einer Welt leben, in der ein Light oder zero-calorie-Produkt, dass kaum Nährstoffe liefert, oft teurer ist, als ein Lebensmittel, dass Energie und Nährstoffe liefert?


Somit kann die Diskussion um Zyklusstörungen, Essstörungen, PCOS, Pille ja/nein, keine Folge einer Wahrnehmungsverzerrung sein. Wenn es kein Problem gibt, dann gäbe es kein Grund über das Problem zu reden. Da wir aber gerade ständig und überwiegend im Frauenbereich über so etwas reden und sich das Angebot stets nach der Nachfrage richtet, scheint das Problem doch zu existieren.

Das Absurde ist, dass wir also bereits soweit sind, dass solch medizinische Probleme relevant für den Fitnesslaifstail geworden sind, was ein Indiz dafür ist, wie fit dieser Fitnesslaifstail wirklich macht.

Wenn Eltern hier also nicht reflektiert und achtsam sind in allem was sie tun, übernehmen die Kinder die gleichen destruktiven Verhaltensweisen der Eltern. Das Traurige ist, dass viele schon gar nicht mehr selbst wahrnehmen, wie ihr Denken und Handeln von all dem bereits beeinflusst ist.

Wir sehen das einfach an der Entwicklung in allen Branchen. Alles, was schnellen Reward bringt, wird stärker nachgefragt. Warte- und Lieferzeiten werden verkürzt, nichts darf mehr anstrengen, alles muss schnell gehen. Wir leben in einer Konsumgesellschaft, deren Existenzgrundlage auf einer möglichst bequemen Lösung der Konsumentennachfrage basiert. Und Konsumenten sind Menschen und Menschen sind nicht rational. Entscheidungen werden stets auf der Basis von Bedürfnissen getroffen und Bedürfnisse sind oft emotional gesteuert. Emotionen wiederum laufen über den affektiven Informationsverarbeitungsweg und dieser ist mächtiger als der kognitive. Daher haben wir das Gefühl, dass die Gesellschaft irgendwie immer mehr verdummt. Dies ist nur eine logische Folge einer Konsumgesellschaft. #bolschewistische Ostblockbarbie

Menschen sind immer erst bereit, vernünftig zu werden und ihr Hirn zu benutzen, wenn es ihnen schlecht genug geht, dass die Kosten der Hirnnutzung geringer als die Kosten des “schnell haben wollens” werden.

Ich denke, dass sieht jeder von euch, an der eigenen Entwicklung selbst am besten. Anfangs war Fitnessbarbie noch toll, bis es euch so aus der Bahn geworfen hat, dass ihr gemerkt habt, dass ihr so nicht weiter leben könnt.

Man muss sich eben immer erst selbst die Finger verbrennen und diese Macke werden auch zukünftige Generationen nicht ablegen. Zumal Kinder noch nicht so eine gefestigte “Fuck it” Persönlichkeit besitzen, sich von all den Einflüssen und Erwartungen, die auf sie einprasseln, zu distanzieren.

Selbst von Müttern bekomme ich immer wieder Nachrichten, dass sie regelrecht Angst haben, weil sie wissen, dass sie ihre Kinder nicht komplett von diesen Einflüssen schützen können und befürchten, dass ihre Töchter ebenfalls eine gestörte Körperwahrnehmung und Essstörungen entwickeln. Gerade Mütter, die das alles selbst hinter sich haben, haben ein umso stärkeres Bewusstsein dafür, was ihren Töchtern bevorsteht, weil sie wissen, dass ihre Töchter dem Fitnessmarketing noch früher und noch allgegenwärtiger ausgesetzt sind, als sie selbst.

Mütter von heute, sind noch nicht mal mit Insta aufgewachsen und sind jetzt schon davon geprägt. Selbst erwachsene Frauen, können sich von der digitalen Bilderwelt emotional distanzieren.

Was passiert dann erst mit kleinen Mädchen, für die das alles nun normal ist? Die ständig Frauenkörper sehen und die begeisterten Reaktionen darauf? Körper, die gar nicht echt, natural oder ohne einen extrem restriktiven Lebensstil erreichbar sind? Wenn ein kleines Mädchen eine Fitnessbarbie mit Silikon, Extensions, porenfreier, makelloser Haut und Sixpack sieht, wird dieses Bild als „so sieht eine Frau aus, die alle toll finden“ abgespeichert. Der Kinderkopf weiß noch nicht, was Silikon, Hylauron, Extensions sind. Es weiß auch nicht, dass einige Hormone bei einem dauerhaft niedrigen KFA so in den Keller gehen, dass Haut, Haare, Nägel kaputt gehen und die Brüste schrumpfen. Wenn das kleine Mädchen dann in der Pubertät anfängt dem nachzueifern, ist dies der Beginn eines jahrelangen Kampf gegen ihren Körper, den sie mit ihrer geistigen und körperlichen Gesundheit zahlen wird.

Selbst wenn Eltern versuchen ihre Kinder zu schützen, indem sie sie von den sozialen Medien weitestgehend abschotten, haben sie keine Chance, denn die die Auswirkungen der digitalen Marketingwelt hinterlassen überall Spuren und begegnen den Kindern spätestens in ihrem sozialen Umfeld. In Schulen etc. treffen sie bald auf andere Kinder, die diese Prägung ebenfalls erfahren haben. So werden sie sich im Lern- und Adaptionsprozess des sozialen Miteinanders anpassen. Kinder machen und wollen immer das, was andere Kinder machen und haben und v.a. derjenigen, die am beliebtesten sind. Das sind gegenwärtig Fitnessbarbies und -kens.

Kurzum, wir steuern hier auf ein großes Problem zu und ich denke die Auswirkungen sehen wir bereits jetzt.

Foto by Sai de Silva

Solang sich die Nachfrage nicht ändert, haben Fitnessmenschen keinen Anreiz, ihr Business mal zu überdenken. Der monetäre Anreiz ist hier größer als der ethische, da die Branche komplett unreguliert ist und jeder machen kann, was er will.

Damit sich die Nachfrage ändern kann, müssen Frauen auch in der Lage sein, selbst zu reflektieren, wie der Fitnesslaifstail bereits ihr Unterbewusstsein lenkt.

Ein paar Beispiele, wie Eltern (insbesondere Mütter) ihre erlernten Muster unbewusst an ihre Kinder (insbesondere Töchter) kommunizieren. Die Beispiele sollen ein Bewusstsein dafür schaffen, wie sich Vieles in eurem Gehirn bereits festgesetzt hat und für euch normal geworden ist. Ich denke jede Frau findet sich darin wieder.

Die linke Spalte ist das, was ein kleines Kind bei seinen Eltern beobachtet und rechts, das was in dem kleinen Kinderkopf passiert, nämlich das Lernen und Bewerten aus der Beobachtung um die Welt zu verstehen und sich anzupassen.




Unbewusste Signale der Eltern 
Lernprozess im Kopf des Kindes
Mama: “Ich habe zu viel gegessen.”
Wenn man zu viel isst, ist das schlecht.
Mama isst weniger und anders als Papa.
Frauen müssen weniger und anders essen als Männer.
Mama hat schlechte Laune, wenn sie (zu viel/das “Falsche”) gegessen hat.
Essen ist etwas Schlechtes.
Mama hat schlechte Laune, wenn sie nicht trainiert hat.
Nicht trainieren, ist schlecht.
Mama zieht immer den Bauch ein.
Ein Bauch haben ist schlecht.
Papa ist netter zu Mama, wenn Mama hübsch ist und/oder abgenommen hat.
Frauen sind mehr wert, wenn sie hübsch sind.
Papa ist netter zu mir (Tochter), wenn ich hübsch aussehe.
Ich werde mehr von Männern geliebt, wenn ich hübsch aussehe.
Mama & Papa sind netter zu mir, wenn ich gute Leistung bringe.
Wenn ich versage, bin ich nicht liebenswert. Wenn ich gute Leistung bringe, bin ich liebenswert.
Mama bekommt Komplimente, wenn sie abgenommen hat.
Frauen sind beliebter, wenn sie schlank sind.
Mama passt immer auf, was sie isst und isst bestimmte Lebensmittel nicht.
Es gibt gute und böse Lebensmittel.
“Das war klar, dass mir das passiert.” oder „immer passiert mir das.“
Wenn einem etwas Doofes passiert, hat man das verdient. Was einem widerfährt, kann man nicht beeinflussen.
“Ich bin so dumm.”
Wenn man Fehler macht, ist man dumm.
Mama fühlt sich in ihrem Körper unwohl und versteckt ihn.
Man muss sich für seinen Körper schämen.
Wenn ich Mama z.B. an den Bauch fasse, weil der so schön weich ist, ist ihr das unangenehm und sie wendet sich ab.
Der Bauch ist anders und “schlechter” als andere Körperregionen und man muss ihn verstecken.



Ihr seht, dass Informationsvermittlung und Lernprozesse völlig unbewusst erfolgen, sowohl von Seiten der Eltern als auch der Kinder. Die Eltern machen etwas, was sie gewohnt sind und selbst gelernt haben, das Kind beobachtet das und erlernt so die Regeln und Werte dieser Welt.

Wenn ihr Babies und Kleinkinder beobachtet, seht ihr, wie wertfrei sie alles tun. Sie zwicken der Mama in die Brust und in die Speckrolle am Bauch und erkunden so ihre Umwelt, weil sie nicht wissen, was das ist. Die Reaktion der Mutter bestimmt dann, wie das Kind das Untersuchungsobjekt zu bewerten hat. Die Mama wird in dem Moment an ihre “Problemzone” erinnert und reagiert entsprechend, obwohl das Kind nicht mal weiß, was eine Problemzone ist. Nach der Reaktion der Mutter, weiß es das aber.

Daran erkennt man, wie unser eigenes Unterbewusstsein bereits von der Fitnesskultur und dem Frauenbild geprägt ist. Sicherlich werdet ihr euch alle in den o.g. Punkten selbst wieder finden und merken, welch hohes Maß an Selbstreflektion und -beherrschung notwendig ist, um die eigenen Macken, nicht auf das Kind zu übertragen. Und dass das nicht immer machbar ist, hat jeder sicherlich bereits bei sich selbst beobachten können. Da braucht es nur mal eine ordentliche Ladung Alltagsstress oder emotionale Belastung und jedes bisschen an Vernunft und Willenskraft ist dahin.

Was das Ganze so riskant macht, ist welche Bedeutung und Wertung die Information im Kopf des Kindes erhält. Bei einer erwünschten Wertung, die zur positiven Entwicklung des Kindes beiträgt, ist das toll. Problematisch wird es jedoch bei Wertungen und impliziten Assoziationen, die die Entwicklung der kognitiven, emotionalen und sozialen Stabilität des Kindes beeinträchtigen und die liefern wir Kindern momentan am laufenden Band.

Galmiche M, Déchelotte P, Lambert G, Tavolacci MP (2019): Prevalence of eating disorders over the 2000-2018 period: a systematic literature review. American Society for Clinical Nutrition, 109(5):1402-1413.

Foto by Caroline Hernandez