Hallo, ich bin Nora und ich bin ein Vulkanmädchen.

Hallo,

ich bin Nora, 30 Jahr und ich bin essgestört.

Lüge.

Ich WAR essgestört.

Lüge.

Wie nennt man das? Einen Alkoholiker, der nicht mehr trinkt, nennt man trocken. Doch wie nennt man einen Essgestörten, der – nun ja, immer noch isst, aber nicht mehr so gestört, der aber auch nicht das Gleiche isst, wie jemand ohne Essstörung ?

Man sieht es mir nicht an. Den Spuk in meinem Kopf. Die von den Wänden gerissenen Tapeten in meinem Innern. Das war schon immer so.

Als pummeliges Kind, habe ich schnell gelernt, dass ich anders bin, als die anderen Kinder, mitihren spitzen Knien und schlacksigen Körpern. Aber nicht nur anders, sondern falsch – weniger Wert, weil ich mehr war. Mehr Platz auf dieser Welt einnahm als andere. Aber ich lernte schnell, dass ich dieses Manko ausgleichen konnte, indem ich im Gegenzug immer mehr leistete , als alle anderen. Mehr leistete, um die runden Knie, das Bäuchlein, die schüchterne Art, den Schokoriegel auszugleichen. Ich lernte, dass ich besonders gut war im Durchhalten und darin keine Schmerzen zu zeigen, weder physische noch psychische.

Quasi zeitgleich meldete mich meine Mutter beim Tanzen an, weil ich das liebte und um- (na, wer kann es sich denken?) genau – Gewicht zu verlieren.

Diäten, auch noch so eine Sache, die ich erschreckend früh lernte. Meine Jojo Karriere begann also in der Grundschule und mit einer Mutter, die zwar nur mein Bestes wollte, sich aber null in Ernährung auskannte und mich dafür lobte, wenn ich nur 1 Apfel am Tag aß. So war der rote Teppich für die Essstörung sozusagen ausgerollt. Und dann war da ja noch das Tanzen. Was ich ich so sehr liebte. In dem ich so gut war. Für das ich aber immer zu dick war. Leider war dies immer ein Thema. Denn als Tänzerin ist man dünn und sehnig. Und an mir war nun mal nichts dünn und sehnig. Später in der Ausbildung sagten sie mir sogar, dass die Welt für Tänzer wie mich nicht bereit wäre. Als wäre ich eine Art Mutant, der von der Tanzwelt gefürchtet wird.

Foto by Hannah Homayoonfar
Foto by Hannah Homayoonfar

Leistungssport, übertriebener Leistungswille, ein geradezu schon selbstzerstörerischer Hang zum Masochismus, gipfelten in einer jahrelangen hochaktiven Essstörung, die sich in meiner Tanzausbildung so richtig entfalten konnte. Der Esstörungsvulkan spuckte seine ätzende alles verzehrende Masse nur so in mich rein. Und ich wurde weniger – nie so wenig, dass man mich wirklich als mager beschrieben hätte, obwohl ich es unter den Umständen hätte sein müssen. Also offensichtlich nie essgestört GENUG.

Aber ich wurde weniger ich. Weniger Freude, weniger Lachen. Weniger Liebe zum Tanzen. Ich wurde mehr Verbote, mehr Regeln, mehr dunkle Schatten unter den Augen und mehr blasse Haut. Ich wurde durchsichtig. Mir war fast ständig kalt. Aber ich wurde nicht dünn genug. Weil die Welt auf Zahlen steht. Auf messbare Sachen. Auf greifbare Sachen. Auf Fakten. Laut ihrer Tabellen war ich normal. Laut ihrer Tabellen funktionierte ich. Laut ihrer Tabellen brauchte ich keine Hilfe. Aber sie hatten keine Tabelle, die den Terror in meinem Kopf messen konnte. Keine Skala, die meine Erschöpfung zeigen konnte , wenn ich nach 5 Tagen ohne jegliche Nahrung, aber 4 1⁄2 h Sport am Tag für eine Strecke von 800 Metern 30 min zu Fuß brauchte, weil ich am Ende war. Oder wenn mich nach dem Training ein taubes Kribbeln im Gesicht und Armen und Beinen befiel. Wenn ich mich nicht traute eine Scheibe Vollfett Käse zu essen oder wenn ich wiederum 3 Tafel Schokolade hintereinander wegfraß, weil nach Hungern irgendwann immer Fressen kommt. Wenn ich im Supermarkt stand und fast los heulte, weil es mich komplett überforderte Nahrung zu kaufen.

Mein Leben lang haben alle nur gesehen, was ich leiste, dabei anscheinend immer gut drauf bin, mal etwas schlanker bin und mal ein paar Kilos zuviel drauf habe. So jemand essgestört ?

Niemals.

Der Vulkan war über all die Jahre mal mehr mal weniger aktiv, aber er war nie still. Ich nahm zu und ab und zu und ab. Wurde mal mehr als fette Kuh beleidigt, mal weniger. Und irgendwann kam der Tag, da beschloss mein Körper mir das heimzuzahlen. Vor knapp 3 Jahren gab es einen Knall und mir riss die Achillessehne. Komplettruptur. Op.

Ich nenne dieses Ereignis gerne Big Peng. Rückblickend eine der besten Sachen, die mir in meinem Leben passiert ist. Ich weiß noch, wie ich einen Tag nachdem es knallte morgens im Bett saß mit diesem kaputten Körper. Diesem Bein, was ich nicht benutzen konnte und einfach nur weinte. Und anfing mich bei meinem Körper- laut ausgesprochen- zu entschuldigen. Für all die grausamen Taten. Für all die schlechten Gedanken. Ich heulte und heulte und heulte und betete darum, dass mein Körper mir verzeihen möge und alles wieder zu 100 % heilen würde.

Und ich begann zu kämpfen – gegen den Vulkan. Gegen diesen selbstzerstörerischen Drang. Gegen das Gefühl, etwas leisten zu müssen, um etwas wert zu sein. Um etwas essen zu dürfen. Um meine runden Knie auszugleichen.

Ich entdeckte neben dem Tanzen den Kraftsport für mich und fand gefallen daran stärker zu werden. Und das geht nicht, wenn man nicht anständig isst. Auf einmal war da was, für das meine kräftigen Beine sogar von Vorteil waren. Ich wurde wieder richtig fit und begann nebenher Fitness Kurse zu geben. Aber auch hier passe ich nicht richtig rein. Ich bin keine Fitness Barbie, mit Six Pack, und einem KFA von ein paar popeligen Prozent. Ich bin immer noch das Mädchen mit dem runden Knien und wer sich mit Sport und Körpern nicht auskennt, sieht wahrscheinlich auch nicht, welche Kraft und Stärke und Dynamik in meinem plus size Körper steckt.

Wenn mich Leute fragen, was ich arbeite und ich sage, dass ich freiberuflich im Fitnessbereich tätig bin, ist es lustig zu beobachten, wie unterschiedlich reagieren. Manche versuchen ihre Verwunderung zu verbergen, aber ihr Gesicht ist so durchsichtig, dass ich jeden Gedanken lesen kann. Und manche sagen das ganz frech einfach gerade aus. Wie das denn ginge. Das jemand wie ich was mit Fitness macht. Woher das denn kommt.

Einmal wurde ich im Studio tatsächlich von einem Mitglied darauf angesprochen, wie das denn sein könne. Er sähe mich ja nun auch schon ein paar Jahre trainieren. Aber ich würde ja gar nicht dünner werden. Ob ich denn eine Krankheit hätte.

Es tut mir leid Welt, dass du so limitiert bist in deiner Vorstellungskraft.

Was soll ich sagen. Ich kämpfe noch immer, aber der Vulkan schläft. Aber ich weiß – er ist da.

Ich habe großartige Menschen und Trainer um mich herum, die mir dabei helfen, dass das so bleibt. Und dafür kämpfe ich. Mich zu mögen in einer Welt, die mir eigentlich immer noch weiß machen will, dass ich anders sein sollte. Oder zumindest danach streben sollte. Nicht so zufrieden sein sollte. Lightprodukte kaufen sollte.

Ich verwirre und verunsichere die Welt damit , dass bei mir nix übereinstimmt und der Schein trügt. So, wie ich aussehe, sollte ich nicht so fit und sportlich sein.

So wie ich aussehe, sollte ich bei weight watchers ein Abo haben.

Aber ich lerne. Ich lerne, dass ich nicht immer mehr leisten muss… das manchmal sogar weniger mehr ist. Ich lerne, dass ich mich nicht bis an den Rand der Bewusstlosigkeit trainieren muss, um genug trainiert zu haben. Ich lerne, dass ich ok bin. Dass ich Fett habe – aber nicht fett bin. Dass mein Wert als Mensch nicht prozentual steigt, je mehr mein Körpergewicht sinkt.

Ich lerne, dass ich Ruhe brauche. Ich lerne, dass ich Ruhe brauchen DARF.

Und jetzt weiß ich, was anders ist im Vergleich zu Menschen ohne Essstörung. Die haben keinen schlafenden Vulkan in sich. Denn auch, wenn er still ist, ist er da. Es macht einen Unterschied, ob man einen Vulkan hat oder nicht.

Hallo, ich bin Nora und ich bin ein Vulkanmädchen.