„Ich kann das nicht“

Wie oft hast du dir diesen Satz in deinem Leben schon gesagt? Mit Sicherheit sehr oft. So wie sehr viele Frauen.

Ich habe mir diesen Satz ebenfalls zu oft in meinem Leben gesagt, doch interessanterweise ohne es bewusst wahrzunehmen. Es war mein Selbstverständnis, meine Wahrheit, meine Normalität.

Wie anders es sich anfühlt mit “Ich kann das” zu leben, habe ich erst verstanden, als ich gelernt hatte, dass das “Ich kann das nicht” nicht stimmt.

Zu diesem Zeitpunkt dämmerte mir, dass es strategisch keine gute Idee ist, sich weiterhin wie ein kleines Mädchen vor den Monstern unter dem Bett mit seinen Kuscheltieren zu verstecken. Stattdessen beschloss ich, einfach mal das Licht anzumachen und nachzusehen, ob es überhaupt Monster unter meinem Bett gibt. Denn das Merkwürdige bei der Dunkelheit ist, dass sie extrem scheu ist und bereits bei dem kleinsten Schimmer Licht verschwindet.

Viele Frauen gehen grundsätzlich zunächst davon aus, dass sie etwas nicht können bzw. für etwas oder jemanden nicht gut genug sind. Das erkenne ich auch im Coaching nicht nur an ihrer unbewussten Wortwahl, sondern an der Art, wie sie mit Herausforderungen, Neuem und Ungewohntem und ihren Ängsten umgehen. Und vor allem auch daran, welche Ziele sie sich setzen.

Ich sehe es im Training: wenn sie ganz zaghaft das erste Mal die Hantel anfassen und mehr damit beschäftigt sind, zu prüfen, ob sie beobachtet werden, oder bemüht sind, mich nicht zu enttäuschen, statt für sich selbst einfach neugierig auszuprobieren und sich ausschließlich auf sich und die Bewegung zu fokussieren. Ich sehe, wie sie unter Stress stehen, Versagensangst haben und mich nach der Ausführung erwartungsvoll ansehen und auf das vernichtende Urteil warten. Aus diesem Grund ist das erste, was ich im gemeinsamen Techniktraining mit Frauen mache, Vertrauen und Sicherheit aufzubauen, statt sie mit Informationen zu überladen. Vor dem Techniktraining kommen sie mit einem unbewussten “Ich kann das nicht” zu mir. Mein Ziel ist es, dass sie aus dem Training mit einem “Ich kann das” gehen. Wenn ich das schaffe, habe ich einen guten Job gemacht.

Ich sehe es in vertrauten Gesprächen, wenn mir Klientinnen ihr Herz ausschütten, mit all den Dingen, die sie nicht mit Freunden, Familie oder ihren Partnern besprechen, weil sie wie selbstverständlich davon ausgehen, dass niemand bereit ist, diese Last mit ihnen zu teilen. Stattdessen befürchten sie, dass das Bild der Powerfrau, die immer gut drauf ist, gut aussieht, stets für alle da ist und viel leistet, einen Kratzer bekommt.

Ich sehe es im stressigen Alltag von Müttern und “Karrierefrauen” (das ist übrigens vom Stresslevel auf dem gleichen Niveau, auch wenn es aus gesellschaftlicher Sicht nicht anerkannt wird), die 24/7 beschäftigt sind und Topleistung bringen, Verantwortung tragen und robotermäßig multitasken müssen. Doch wenn es um sie selbst geht, sind sie hilflos und überfordert. Ihr Fokus ist durch die ganze Verantwortung auf alles Externe gerichtet, so dass sie schon nicht mehr wissen, wie sie ihren Fokus auf sich selbst und ihre eigenen Bedürfnisse richten, geschweige denn, wie sie sich das überhaupt erlauben können, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben. Um Hilfe zu bitten ist natürlich auch keine Option.

Das kleine Mädchen in der Dunkelheit

Ich war da nicht viel besser. Auch heute noch muss ich wachsam sein, dem alten Muster nicht sofort nachzugeben. Statt “ich kann das nicht” zu denken, mache ich mir bewusst, dass diese Aussage erst gerechtfertigt ist, wenn ich einen tatsächlichen Beweis für meine Unfähigkeit habe. Dazu muss ich es aber zuerst einmal MACHEN.

Wenn es ein “Ich kann das nicht” und ein “Ich kann das” gibt, stehen die Chancen für beide Optionen 50:50. Hundertprozentig davon auszugehen, dass nur eine Option möglich ist, ist somit auch objektiv gesehen Quatsch.

Dieses “reframing” hat mir geholfen, mich von dem zu distanzieren, was ich schon früh gelernt habe. Denn als kleines Mädchen habe ich die Welt zuerst als einen dunklen, beängstigenden Ort kennengelernt, an dem ich keine Hilfe bekomme, egal wie laut ich danach schreie. Zu dem Zeitpunkt war ich auch noch zu klein, um zu wissen, dass es Lichtschalter gibt, sodass ich mir selbst das Licht anmachen kann. Meine einzige Überlebenschance bestand also darin, mich blind durch die Dunkelheit zu kämpfen und Gefahren zu antizipieren. Somit kannte ich nichts anderes als eine bedrohliche Welt, in der überall Unheil auf mich wartet. Überleben ist ein Urinstinkt eines jeden Lebewesens und so ziemlich jedes Denk- und Verhaltensmuster lässt sich darauf zurückführen.

In kleinen Kindergehirnen nistet sich durch einen nicht beantworteten Hilfeschrei ein “Ich bin nicht gut genug” im Unterbewusstsein ein. Statt Urvertrauen macht sich eine Urangst breit, die sich durch übersteigerte Ängstlichkeit äußert.

Wenn das nicht wieder gerade gerückt wird, geht das kleine Mädchen mit diesem Selbstbild durchs Leben. Deswegen gibt es sehr viele Frauen, in denen das kleine, unsichere Mädchen noch lebt und nicht zu einer erwachsenen, unabhängigen Frau heranwachsen will, denn mit dem gesellschaftlichem Wandel sozialer Beziehungen und der fehlenden Nestwärme einer Familie passiert es sehr schnell, dass kleine Mädchen auf ewig kleine Mädchen bleiben wollen. Der sogenannte Cinderella-Komplex beschreibt dieses Phänomen treffend.

Wie Menschen, die in dein Leben treten, deine Welt verändern können

Meine Urangst führte dazu, dass ich ein sehr schüchternes, ängstliches Kind war. Immer wenn ich vor etwas Angst hatte, wütete das Gedankenkarussell in mir und mein Körper zeigte alle möglichen Stresssymptome. Und ich hatte vor allem Angst, ganz besonders vor der Schule. Der tägliche Weg dorthin fühlte sich für mich an wie der Gang zum Schafott. Ich betete einfach nur, dass ich diesen Tag überlebe, ohne etwas sagen oder können zu müssen, weil ich fest überzeugt war, nichts zu können.

Ich war sogar so ängstlich, dass ich die einfachsten Dinge nicht konnte, sobald ich unter Beobachtung stand. Das gilt bis heute: Ich kann fast alles, bis jemand von mir verlangt etwas zu können oder mir Regeln vorgibt. Dann kann ich es nicht mehr.

Wenn ich etwas sagen sollte, war ich so gelähmt vor Angst, dass ich keinen klaren Kopf zum denken hatte und irgendeinen Quatsch von mir gab. So dachte man lange Zeit, dass ich zu dumm wäre, um den Wechsel aufs Gymnasium zu schaffen.

Doch schließlich kam ich doch aufs Gymnasium. Dort hatte ich natürlich noch mehr Angst, sodass das Gedankenkarussell und die Stresssymptome mir weiter treu blieben.

Doch auf diesem Gymnasium gab es einen bärtigen, seltsamen Mathelehrer, vor dem sich sowohl Schüler als auch Lehrer fürchteten. Er wirkte wie ein introvertierter, nerdiger Wissenschaftler, der sich wochenlang mit ganz viel Mathematik in einen dunklen Raum eingesperrt und sich nun aus Versehen in die Schule unter Menschen verirrt hatte. Er schaffte es, einfach jeden dumm dastehen zu lassen und seine überlegene Intelligenz zu demonstrieren. Das genoss er sichtlich. Selbst die klügsten Schüler waren leichte Opfer für ihn. Nur ein Mitschüler, der auf internationalen Matheolympiaden ganz vorne mitspielte, hätte bei diesem Mann überhaupt das Potenzial gehabt, eine Eins zu bekommen. Bekommen hat er sie dennoch nie.

Dieser Lehrer liebte psychologischen Spielchen, die immer wieder dafür sorgten, dass die Schüler noch eingeschüchterter waren und die Klasse die gesamte Stunde unter gereizter Anspannung stand. Wenn niemand eine Antwort auf seine Fragen hatte, blieb er einfach vor der Klasse stehen und starrte jeden einzelnen Schüler der Reihe nach wortlos und sichtlich belustigt in die Augen. Diese Nummer zog er zur Not auch die gesamte Mathestunde durch. Sein Grundsatz war stets, niemals jemanden aufzurufen. Die Antworten sollten von allein kommen.

Jede Regel braucht aber ja bekanntlich eine Ausnahme. Die war ich.

Ich weiß bis heute nicht warum oder wie ausgerechnet ich ihm aufgefallen bin, doch irgendwann begann er nur mich aufzurufen. Immer. Jede Stunde. Niemand sagt was, also muss Anna ran. Nicht das Mathegenie in der Klasse, sondern das kleine Mädchen, das nichts konnte.

Ich war der festen Überzeugung, dass er mich abgrundtief hassen musste, weil er meine Dummheit entdeckt hatte und mit mir leichtes Spiel hatte. Eine andere Option fiel mir nicht ein, denn ängstlichen Menschen fällt affektiv immer nur das worst-case-Szenario ein.

Doch irgendwann entdeckte ich hinter seinem langen Bart und der wilden Mähne ein zaghaftes Lächeln und mir fiel auf, dass dieses Lächeln sicherer und sein Blick sanfter wurde, wenn meine Antworten richtig waren. Das waren sie zu meinem eigenen Erstaunen immer, wenn ich zu mir sagte “Jetzt ist auch egal, er ruft mich ohnehin auf…”.

Ausgerechnet der fuck-it-Modus brachte Licht in meinen dunklen Wald, in dem ich mich so oft vor lauter Versagensangst verirrte.

Das war das erste Mal in meinem Leben, dass ich begriff, dass ich mir eine Geschichte über mich selbst erzählte, die oft nichts mit der Realität zu tun hatte und  meine verzerrten Glaubenssätze vollkommen Besitz von mir ergriffen hatten. So sehr, dass sie meine Handlungen derart beeinflussten, dass sie zur selbsterfüllenden Prophezeiung wurden. Ein Muster, dass ich viel zu oft bei Frauen, die GEGEN ihren Körper gekämpft haben, beobachtet habe.

Ich habe diesem Mann im Grunde zu verdanken, dass ich nach vielen Jahren begriff: Ich war mit einem destruktivem Selbstbild durchs Leben gegangen, das mir eingepflanzt wurde und ich war nie auf die Idee gekommen, überhaupt einmal zu testen, ob das denn wirklich stimmt. Wozu auch – ich war ja überzeugt, dass ich eh nichts konnte. Somit stand das Ergebnis schon fest, bevor ich überhaupt einen Versuch unternommen hatte, meine Hypothese zu testen. Aus einer x-prozentigen Wahrscheinlichkeit, dass ich etwas nicht kann, wurde a priori eine hundertprozentige Sicherheit, dass ich es nicht kann.

Das ist aus psychologischer Sicht übrigens eine interessante Beobachtung, die sich in allen Lebensbereichen und bei jedem Menschen finden lässt: Sobald Menschen ein zukünftiges Ziel oder Ereignis internalisieren, haben sie die Zukunft bereits in der Gegenwart beeinflusst, obwohl diese noch nicht eingetreten ist. Dies gilt im konstruktiven wie auch im destruktiven Sinne. Nimmt man etwas als wahr und gegeben an, beeinflusst man sein Gehirn in der Art, wie es Informationen interpretiert. Denn einzelne unvollständige Informationen unserer Umwelt werden erst in unserem Gehirn, im Kontext unserer Glaubenssätze und Erfahrungen, zu sinnvollen Geschichten konstruiert, die zu Gefühlen, dann Gedanken und schließlich zu Handlungen werden. Daher ist es entscheidend, ein Ereignis in der Zukunft nicht als sicher zu betrachten, sondern stets präsent im Moment zu bleiben.

Glaubenssätze lassen sich nur ändern, wenn man sich ihrer bewusst wird und sich traut, das Gegenteil von dem zu machen, was sich zunächst richtig anfühlt. Ein Problem lässt sich eben nur lösen, wenn man das Problem kennt. Nur auf diese Weise ist es möglich, eine positive Erfahrung zu machen, die zum einen das Bewusstsein für die Existenz dieser Glaubenssätze ermöglicht und zum anderen dazu führt, dass künftig Informationen im Kontext dieser neuen positiven Erfahrung interpretiert werden können.

Nachdem ich erkannt hatte, welche Geschichten ich mir über mich selbst erzählte, begann ich, mich freiwillig zu melden, unabhängig davon, ob ich mir meiner Antwort wirklich sicher war. Zu dem Zeitpunkt wurden der Mathelehrer und ich ein eingespieltes Team. Er stellte eine Frage, sah erwartungsvoll in meine Richtung, lächelte und ich meldete mich. Ich begriff, dass er mich nicht hasste, sondern als einziger erkannt hatte, was mein Problem war. Wie er darauf kam, weiß ich bis heute nicht.

Im Laufe der Jahre förderte er mich immer weiter, schubste mich immer wieder ins kalte Wasser und zerrüttete damit meine Glaubenssätze mehr und mehr. Plötzlich war ich nicht mehr das zurückgebliebene Mädchen, sondern das Mädchen, das anders war und komplizierte Dinge besser konnte als einfache. Er war es schließlich auch, der mich dazu brachte, mein Abitur als einziges Mädchen meines Jahrgangs in Mathe und Physik zu machen. In der letzten Unterrichtsstunde bei ihm war er wie immer in seinem Element. Vor der gesamten Klasse wurde jede einzelne Abschlussnote jedes Schülers analysiert. Mein Notenschnitt bei ihm stand genau bei 1,5 und mir war klar, dass er mir nie die 1 geben würde, denn niemand bekam bei ihm eine 1. Selbst das Mathegenie bekam “nur” eine 2. Zu mir sagte er nicht viel, sondern grinste mich nur lange an. Am Ende stand auf meinem Zeugnis die 1.

Dieser Mathelehrer sagte einmal einen Satz zu mir, der mich äußerst treffend beschreibt: “Wenn es mehrere Wege gibt, findest du immer den kompliziertesten, aber du kommst dennoch immer an.”

Ich bin diesem Mann so dankbar für all das und ich wünsche mir, dass alle kleinen ängstlichen Mädchen so einen Mathelehrer bekommen und sie lernen, dass sie mehr können als sie  glauben, wenn sie einfach mehr mit einer Portion “Fuck it” durchs Leben gehen.

Deine zwei Ichs

Warum erzähle ich das?

Mir hat diese Geschichte gezeigt, welche Macht Glaubenssätze über mich haben. Unser Leben, alles was wir tun, alle unsere sozialen Beziehungen, sind nichts anderes als ein Spiegel unserer Glaubenssätze, deren wir uns oft nicht mal bewusst sind. Was du heute bist, ist oft nichts anderes als Ergebnis deiner Glaubenssätze.

Ich habe exakt dieses Muster bei allen Frauen erkannt, die eine Art Kampf GEGEN ihren Körper führen. So theatralisch es auch klingen mag, aber diese Frauen nehmen ihren Körper tatsächlich als Gegner wahr, den es zu beherrschen, dominieren und kontrollieren gilt. Doch diese Kontrolle ist eine Illusion, denn das Gehirn gewinnt immer – und das Gehirn ist nicht der Verstand. Der Verstand ist nur ein sehr kleiner Teil, der am Ende der Informationsverarbeitungskette steht und gegen unterbewusste Emotionen kaum eine Chance hat. Deswegen ist es immer ganz gut, sich selbst gegenüber skeptisch zu bleiben.

Der Weg zur Beseitigung der Unzufriedenheit dieser Frauen besteht nicht darin, diesen Kampf gegen den Körper zu gewinnen, sondern in der Erkenntnis, dass dieser Kampf nichts anderes ist als eine Projektion der Urangst des kleinen Mädchens in ihnen. Sie werden diesen Kampf ohnehin immer verlieren, weil ihr Körper nicht der eigentliche Gegner ist. Das erkennt man daran, dass sie – selbst wenn sie abnehmen – immer noch unzufrieden sind. Denn egal wie viel sie abnehmen: Es ist nie genug.

Immer wenn man in die “ich will mehr und immer mehr”-Spirale gerät, ist dies ein Zeichen für einen Kompensationsmechanismus. In diesem Fall wird ein Symptom mit einer falschen Medizin behandelt, weil die Ursache unbekannt ist.

“What was unexpected pleasure yesterday is what we feel entitled to today, and what won’t be enough tomorrow”


Robert Sapolsky


Die Lösung besteht also nicht darin, reflexhaft Zuflucht bei den Kuscheltieren unter der Bettdecke zu suchen, um sich sicherer zu fühlen – sondern darin, das Licht anzumachen und nachzusehen, ob es überhaupt Monster unter dem Bett gibt. Auch wenn es schwer fällt und beängstigend ist.

Mein Leben wäre völlig anders verlaufen, wenn ich diesen Lehrer nicht gehabt hätte, der mich in Richtung Lichtschalter geschubst hat und mich darauf hingewiesen hat, dass es an der Zeit ist, Licht anzumachen und nachzusehen, ob wirklich Monster unter meinem Bett sind. Er hat an mich geglaubt, als ich es noch nicht konnte.

Dein Ego

Foto by thought catalog
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Doch der springende Punkt dabei ist, dass es eben NICHT darum geht, dass man jemanden BRAUCHT, der an einen glaubt, wenn man es selbst nicht kann. Das wäre Bedürftigkeit und manifestiert vielmehr die Opferrolle, in der man sich selbst gefangen hält.

Vielmehr geht es darum, zu erkennen, dass man zwei Ichs hat:

  1. Das was du glaubst zu sein.
  2. Das was du wirklich bist.

Das erste Ich ist dein Ego, dein konditioniertes Ich, dein denkendes Ich, dein manipulatives Ich, dein bedürftiges Ich, die Stimme in deinem Kopf. Das konditionierte Ich denkt, interpretiert und sieht alles stets im Kontext der Vergangenheit.

Hat dir mal jemand gesagt, dass du zu dick bist, interpretierst du den nächsten musternden Blick auf der Straße in diesem Kontext. Auf die Idee, dass derjenige einfach nur zufällig in deine Richtung gesehen hat oder deine Schuhe mag, kommst du gar nicht und selbst wenn, glaubst du es nicht.

Hat dich einmal ein Mensch enttäuscht oder verlassen, den du sehr geliebt hast, wirst du dich stets zu Menschen hingezogen fühlen, mit denen du dieses Muster wiederholen kannst und das Spiel “Liebst du mich, so lieb ich dich” spielen kannst.

Was hat das mit deinem Ego zu tun?
Du bist doch alles andere als überheblich und selbstbewusst, vielmehr unsicher?

Nur deinem Ego ist wichtig, was andere von dir denken. Nur dein Ego ist auf die Außenwelt fixiert. Nur dein Ego hat Angst zu versagen. Nur dein Ego will Rache für deinen Schmerz. Dein Ego ist auch das kleine Mädchen in dir, dass früh gelernt hat, dass es um die Liebe und Aufmerksamkeit seiner Eltern kämpfen muss, weil es eben keine bedingungslose Liebe für seine bloße Existenz bekommt, sondern gut genug sein muss, um sie sich zu verdienen.

Doch du wirst nicht gut, in dem du versuchst, gut zu sein, weil dein Fokus damit wieder auf der Bestätigungssuche von außen liegt. Sobald du gegen die Stimme in deinem Kopf kämpfst, hast du schon verloren, denn damit gibst du deinem Ego Raum und Macht über dich.

Die Lösung besteht nicht darin, dass du dein Ego weiter fütterst, die Dinge tust, die du sicher kannst und die sich gut anfühlen, sondern darin, dass du lernst, dass du kein Opfer deines Egos bist; des kleinen bedürftigen Mädchens. Vielmehr bist du in der Lage, Dinge zu tun, die dir schwer fallen, die du noch nicht kannst, die unbequem sind. Wenn du sie tust, lernst du, dir zu vertrauen, Probleme zu lösen, Herausforderungen zu bestehen und dass du in der Lage bist, wieder aufzustehen, wenn du hingefallen bist.

Das, was sich schwer anfühlt und Angst macht, das “ich kann das nicht”, ist das Tor zum nächsten Level. Dort findest du das “Ich”, dass du sein könntest, wenn dir dein Ego nicht im Weg steht.

Wenn mich mein Mathelehrer nicht ins kalte Wasser geschubst hätte, hätte ich mein anderes Ich von alleine wahrscheinlich nicht kennengelernt. Wenn mir nicht irgendwann egal geworden wäre, ob meine Antworten richtig oder falsch sind, hätte ich mich nicht getraut, selbst ins kalte Wasser zu springen. Ich hätte nicht gewusst, wer ich sein kann, wenn ich aufhöre, das zu glauben, was ich früh gelernt habe.

Die Notwendigkeit von Demut ist eine weitere Erkenntnis: Begegne dir selbst stets mit einer gesunden Portion Skepsis. Nicht alles, was du siehst, fühlst und glaubst, ist real. Wir Menschen sind keine rationalen Wesen und scheitern umso mehr daran, wenn wir dies von uns annehmen.

Es geht also darum, dass du bereit bist, dein Ego nicht weiter zu füttern. Dass du bereit bist, zu versagen, Fehler zu machen, unbequem, hässlich, rebellisch zu sein und all das zu machen, was dir Angst macht.

Das fängt übrigens damit an, dass du aufhörst (von anderen) zu erwarten. Du bist wieder wütend, weil die Welt nicht so funktioniert, wie du es gern hättest und nicht alles nach deiner Pfeife tanzt? Das ist dein Ego-Problem. Solange du erwartest, dass dir alles ohne Mühe in den Schoß fällt, dass du Glück haben musst, dass du nicht verzichten musst, dass du keine Entscheidungen treffen musst, wirst du immer enttäuscht werden.  

Beobachte deine Handlungen und deine Gespräche:

Wie viel redest du von dir, wie viel jammerst du, wie oft fragst du andere, wie es ihnen geht, ohne dabei von dir zu reden?

Wie oft verdrehst du dir die Wahrheit, um dein Ego zu schützen und anderen die Schuld zu geben?

Wie oft ärgerst du dich, dass dir jemand nicht die Aufmerksamkeit widmet, die du glaubst zu verdienen und bist dann ein kleines bockiges Mädchen?

Wie oft versteckst du dich hinter einer Maske, spielst eine Rolle oder manipulierst, um zu gefallen?


Wie viel hörst du zu, statt selbst zu reden?


Wie oft fragst du dich “Warum muss mir das immer passieren”?


Wie viel deiner Lebenszeit geht dafür drauf, deine Bedürftigkeit zu befriedigen?

Dein Kampf gegen deinen Körper wird aufhören, wenn du diese Bedürftigkeit nicht mehr befriedigen musst. Wenn du verstanden hast, dass du inzwischen eine erwachsene Frau und kein kleines Mädchen mehr bist. Wenn du dich wie eine Königin statt einer Prinzessin verhältst. Wenn du einsiehst, dass du für das, was du haben willst, arbeiten musst und dass das Leben eben einfach auch mal unfair ist, weil es das Leben ist. Wenn du das Licht anmachst und dir ein Monster nach dem anderen vornimmst.

“Girl, wash your face”

Uns Frauen wird schon früh beigebracht, dass es nicht sonderlich gut ankommt, Erwartungen NICHT zu erfüllen. Wenn wir als kleines Mädchen mit aufgeschlagenen Knien nach Hause gekommen sind und das hübsche Kleidchen mit Dreck besuhlt war, wurde uns beigebracht, dass wir Mädchen das nicht machen sollten. Wenn sich kleine Jungs die Knie aufschlagen und ihre Kleidung dreckig machen, ist das eben einfach so, denn schließlich ist er ja ein Junge.

Doch wir leben zum Glück nicht mehr im 19. Jahrhundert, wo Frauen zu Hause die Kinder hüten, am Herd stehen und die schöne Deko an der Seite des Mannes sind. Inzwischen tragen Frauen Eigenverantwortung und müssen lernen, sich im Alltag genauso durchzusetzen wie Männer, sonst gehen sie unter oder bleiben kleine Mädchen.

Kleine Mädchen lernen nach wie vor, in Rollenbildern zu denken, obwohl die Anforderungen des modernen Lebens dies nicht mehr hergeben. Wer als erwachsene Frau immer noch wie ein kleines Mädchen denkt, wird nicht das Potenzial entfalten können, dass ihr die Welt heute eigentlich ermöglicht.

Hör auf zu erwarten, dass das Leben immer schön, einfach und bequem sein muss. Dass man immer glücklich sein muss. Dass du erst die hübsche, schlanke Prinzessin sein musst, bevor du glücklich sein kannst.

Das ist einfach nur eine illusorische Ponyhofwelt der Medien, die dich unzufrieden machen soll, damit du empfänglich für Werbung bist, die dir Problemlösungen verkaufen will. Du bist kein Opfer deines Schicksals, denn nur du bestimmst dein Schicksal. Da wo du jetzt stehst, dein gegenwärtiges Leben, der Mensch, der du jetzt bist, ist nichts anderes als das Ergebnis DEINER Handlungen, deiner Entscheidungen, die wiederum deiner Gedanken und Gefühle entspringen.

Hör also auf mit “Ich kann das nicht”, reiß dich zusammen und mach es einfach.

Great people do things before they’re ready. They do things before they know they can do it. Doing what you’re afraid of, getting out of your comfort zone, taking risks like that – that’s what life is. You might be really good. You might find out something about yourself that’s really special and if you’re not good, who cares? You tried something about yourself.”


Amy Poehler

Foto by Caroline Hernandez
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