Ich weiß, dass ich nichts weiß

Man hat mir immer gesagt, ich sei viel zu stur, perfektionistisch und denke zu viel. Generell kommentieren Menschen immer, was nicht gut an einem ist, weil es ihnen das Gefühl der Überlegenheit gibt. Hinsichtlich der Sturköpfigkeit könnte durchaus etwas dran sein, denn es gibt so einige Erlebnisse in meinem Leben, die sich nur so erklären lassen. Tatsache ist jedoch, dass ich nicht aus Prinzip gern gegen den Strom schwimme, sondern nicht gut darin bin, Dinge zu tun, von denen ich nicht überzeugt bin.

Früher dachte ich, das wäre “falsch”. Für meine Mitmenschen mag es durchaus so scheinen, weil ich oft Sachen mache, die andere nicht machen (wollen) und nach gängigen gesellschaftlichen Normen “unnormal” sind. Um ehrlich zu sein, ist das nicht immer lustig, denn Freunde macht man sich so nicht unbedingt, aber die Alternative würde ich noch unlustiger finden.

Das war schon immer so. Nur ist mir das erst sehr spät bewusst geworden. So wie ich jetzt ein Fitnessnerd bin, war ich früher ein Astrophysiknerd. Das begann mit ca. 8 Jahren und endete mit 18.

Eine typische Anna-Geschichte, die meine Verbissenheit im Umgang mit Problemen ganz gut illustriert: Ich hatte mir in den Kopf gesetzt, das Sonnensystem maßstabsgetreu nachzubauen. D.h. die Durchmesser der Planeten, Bahnradien der Umlaufbahnen mit ihrem Neigungswinkel (für Nerds: Umlaufbahnen sind verdammt kompliziert, weil sie elliptisch und nicht perfekt sind und auch noch unterschiedliche Neigungswinkel haben) und die Anzahl der Monde eines jeden Planeten sollten exakt maßstabsgetreu nachgebaut werden. Damit wollte ich dann Experimente machen, um die Welt besser zu verstehen.

Als ich mit der Berechnung begann, dämmerte mir jedoch, dass das nicht so einfach werden würde. Wenn ich die Sonne auf eine einigermaßen vernünftige Größe brachte, die in mein Zimmer passte, war Pluto (der damals noch ein Planet war) kleiner als ein Stecknadelkopf. Wenn Pluto groß genug war, passte die Sonne nicht mehr in mein Zimmer. Abgesehen davon, dass Pluto dann irgendwo außerhalb meines Zimmers herum kreiste. Pluto war immer der Spielverderber. Vermutlich darf er deswegen kein Planet mehr sein und wurde aus der Planetenfamilie gekickt. Wenn ich auch die Neigung seiner Umlaufbahn irgendwie umsetzbar einbeziehen wollte, war die Neigung der anderen Umlaufbahn so minimal, dass ich keine Ahnung hatte, wie ich das frei Hand basteln sollte (Plutos Umlaufbahn hat gegenüber den anderen Planeten einen wesentlich größeren Neigungswinkel).

Da saß Klein-Anna nun in ihrem Kinderzimmer und überlegte, wie sie das Sonnensystem da rein bekommen sollte. Das Ganze bereitete mir wochenlang wirklich Kopfzerbrechen.  Die einzig logische Erklärung für die scheinbare Unlösbarkeit dieses Widerspruchs, bestand für mich darin, dass ich schlichtweg zu dumm war, das Problem zu lösen. Das ist typisch Frau: Statt anzuerkennen, dass ein kleines 12 jähriges Mädchen sich den Kopf darüber zerbricht, wie sie das Sonnensystem in sein Zimmer bekommt, sieht das kleine Mädchen nur, dass es noch nicht klug genug ist, das Problem zu lösen.

Also musste ich über meinen Stolz hinwegsehen und begann mit der Recherche, wie andere das Problem gelöst hatten. So las ich schließlich, dass auch Galileo Galilei an dem Vorhaben gescheitert war, weil ein maßstabsgetreues Modell mit allen Variablen nicht in einer praktischen Größe umsetzbar ist. Dazu sind die Dimensionen im Universum einfach zu groß. Er fand sich dann damit ab, die Ellipsen zu Kreisen zu idealisieren und die Radien ganz zu ignorieren. So passte alles immerhin in sein Zimmer.

Mir fiel ein Stein vom Herzen. Galilei war genauso dumm wie ich!

Statt versagt zu haben, hatte ich ein wesentliches Prinzip entdeckt, dass mir in den folgenden Jahren noch sehr häufig in der Physik begegnet ist und meine Denkweise bis heute entscheidend prägt.

Ich hatte erkannt, dass die Welt, in der wir Menschen leben, unsere Wahrnehmung und unsere Fähigkeit zu verstehen, wie die Welt wirklich ist, so verdammt begrenzt ist und wir so winzig sind, dass wir Menschen uns in mehr Bescheidenheit üben sollten, zu glauben, wir hätten die Mittel und die intellektuellen Fähigkeiten irgendwelche Absolutheitsansprüche zu stellen. Was wir können und sehen ist ein verdammt kleiner Ausschnitt der Welt.

Wir haben nur eine Ahnung davon, dass es da draußen ganz viel gibt, das wir nicht verstehen oder erfassen können. Mathematische Modelle der Stringtheorie bewegen sich bspw. auf so vielen Dimensionen, dass die Menschen, die sich das ausgedacht haben, sagen, man solle gar nicht erst versuchen, sich das vorzustellen, weil wir Menschen das nicht können. Wir können räumlich nur in 3 Dimensionen denken. Die Zeit als 4. Dimension kriegen wir vielleicht auch noch hin. Das wars dann aber auch schon. In 10 Dimensionen können wir nicht denken. Nur rechnen. Also ein paar wenige Menschen jedenfalls.

Die Komplexität eines Problems erkennt man also am Besten, wenn man sich selbst einmal durch das Problem versucht durchzukämpfen.  Wenn ich nicht tagelang an all den Variablen des Sonnensystems herumgedreht hätte, hätte ich gar nicht erfassen können, wie schwierig ein so simples Problem doch sein kann. Vor allem, wenn man sich bewusst macht, dass unser Sonnensystem verdammt winzig ist, im Vergleich zu dem, was das Universum noch zu bieten hat.

Foto by Greg Rakozy
Foto by Greg Rakozy

Physiker haben sich mittlerweile auch damit abgefunden, dass wir Menschen nicht die technischen Möglichkeiten besitzen, zu den elementarsten Teilchen vorzudringen, die der Grundbaustein für so ziemlich alles sind. Das entspricht im Falle der Stringtheorie einer Größenordnung von ca. 10^-35m, der sogenannten Plancklänge. Man bräuchte Teilchenbeschleuniger, die vielleicht die Größe unseres Sonnensystems haben und Energien, die wir nicht kontrollieren könnten. Also muss man sich über das Ausschlussprinzip der Wahrheit nähern.

Wir können mit unseren Fähigkeiten nicht nachweisen, was wahr ist, sondern nur, was nicht wahr ist. Und bis jetzt weiß man über die Welt vor allem, dass wir ganz viel nicht wissen und die Welt, so wie wir sie uns vorstellen, in ihren elementarsten Einheiten kollabiert. Was du also im Physikunterricht gelernt hast, funktioniert nur in deiner sichtbaren Welt. Die klassische Physik ist ein Modell, mit der wir die Welt, wie wir sehen, beschreiben können. Aber sie gilt nicht mehr, wenn man an in die tiefsten, elementarsten Raum vordringt. Das bedeutet, sie funktioniert nur, wenn man das große Ganze betrachtet, aber nicht mehr, wenn man ganz genau hinsieht und die kleinsten Details untersucht. Es besteht also durchaus die Möglichkeit, dass wir Menschen uns die ganze Zeit frohlügen und unser Verständnis von der Welt völlig falsch ist. Das ist ja schon öfters in der Menschheitsgeschichte vorgekommen und wie wir alle wissen, machen Menschen, immer wieder die gleichen Fehler, weil sie annehmen allwissend zu sein.

Wenn du es bis hierher geschafft hast: Glückwunsch! Das Kind in dir lebt. Doch worauf will ich eigentlich hinaus?

Meine Eltern haben mich als Kind immer mit den bezauberndsten Kinderbüchern versorgt. Von “Peter und der Wolf” bis “Unser Sonnensystem” war alles dabei. Kinderbücher sind so verdammt wichtig. Meiner Meinung nach entscheiden die Art der Bücher, die sich kleine Gartenzwerge in so jungen Jahren ansehen, über den Lebensweg und die Entwicklung der Persönlichkeit.

Wie soll ein Kind herausfinden, was es interessiert, wenn es keinen Input bekommt, was die Welt alles zu bieten hat? Neugier und Wissensdurst sind so besondere Eigenschaften, die leider mit dem Erwachsenwerden verloren gehen. Das Gehirn ist noch frei von gut/böse, richtig/falsch und “Das macht man eben so”. Im Gegenteil, wenn man mal beobachtet, wie sich kleine Kinder mit Bauklötzen, Papiertüten, Kisten und Pfützen selbst bespaßen können und wie sie die Welt unvoreingenommen selbst erkunden, wäre die Welt ein besserer Ort, wenn die großen Kinder, sich daran mal ein Beispiel nehmen würden.

Ich habe irgendwo mal gelesen, dass man Einstein gefragt hat, warum er so schlau ist. Sinngemäß soll er geantwortet haben, dass er gar nicht schlau ist. Er habe die Welt nur aus den Augen eines Kindes betrachtet und sich viele Fragen gestellt. Außerdem war er zunächst gar kein Physiker, sondern Angestellter auf einem Patentamt. In seiner Freizeit hat er sich dann in die Physikbücher gegraben und hat sich das Fachwissen ungefiltert und ohne Tunnelblick angeeignet, weil er ja nicht von Experten gelernt hat, die ihm das alles Stille-Post-mäßig erklären. Alles Faktoren, die dazu geführt haben, dass er in der Lage war, über den Tellerrand zu schauen. Eine Eigenschaft, die in der Geschichte der Physik immer zu den revolutionären Erkenntnissen führte.

„Die Neugier steht immer an erster Stelle eines Problems, das gelöst werden will.“


Galileo Galilei

Neugier impliziert außerdem, dass man die Begrenztheit des eigenen geistigen Horizonts erkennt. Wer weiß, was er nicht weiß, wird sich weiter entwickeln, indem er einfache Fragen stellt. Ohne Fragen keine Antworten. Wer annimmt, alles zu wissen, weiß oft gar nichts und wird dies auch nicht ändern.

Bescheidenheit ist aber in unserer heutigen Welt keine Eigenschaft von Wert. Vielmehr ist das Gegenteil der Fall: In Zeiten von Instagram & Co. ist jeder damit beschäftigt, sich zu inszenieren und etwas darzustellen, das ihm Anerkennung, Bewunderung und Reichweite bringt. Genau das führt jedoch dazu, dass der Blick nach innen fehlt und kein Bewusstsein dafür entstehen kann, dass die eigene Unzufriedenheit der Leere im Inneren entspringt. Kurzfristig lässt sich diese Leere durch Feedback und Input von Außen füllen, doch da beides heutzutage so oft oberflächlich und kurzlebig ist, hält das nicht lang an. Vielmehr ist es ein Fass ohne Boden und man braucht immer mehr und immer mehr.  Bleibt der Input aus oder reduziert sich, macht sich das ungute Gefühl der Leere wieder bemerkbar.


Das, was dir zunächst den schnellen Kick gibt, um dich von deiner inneren Unzufriedenheit ablenkt, wird schon bald dein Gefängnis werden.

Das meiste reduziert sich auf die rein äußerliche Darstellung, da nur die für viele heutzutage zu zählen scheint. Was hinter dem hübschen Gesicht mit Großaugenfilter und Makelkorrektur steckt, ist nicht wichtig.

Diese perfekt inszenierte Oberfläche stets aufrecht zu erhalten ist zeitraubend und anstrengend. Da bleibt eben keine Zeit mehr, Fragen zu stellen, und schon gar nicht nach Antworten zu suchen.

“Frauen, die zu viel Zeit damit verbringen, hübsch zu sein, haben keine Zeit, klug zu werden.”


Astrid Lindgren

Meiner Meinung nach mangelt es an dieser Bescheidenheit in der Fitnessszene am meisten. Vielleicht ist das auch der Grund, warum sich so viele bekriegen, Recht haben und sich profilieren wollen oder ihren Narzissmus freien Lauf lassen. Aber hier ist nicht die Erkenntnis das Ziel, sondern das Geld. Und das eigene Ego natürlich.

Foto by Nigel Tadyanehondo
Foto by Nigel Tadyanehond