Ist Kalorienzählen essgestört?

Foto by Charls PH
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Annas allgemeines, subjektives und analytisches Statement zum Thema Kalorienzählen, das Ergebnis des seltenen Ereignisses der Fitnessblase ist, dass Theorie & Praxis, sowie dynamische Interaktion psycholgischer und physiologischer Faktoren zusammen gedacht werden.

Wer jetzt schon aussteigt, kann gerne auf meine Gurki-Booty-Pics ausweichen. Dazu sind sie ja schließlich da…

Kalorienzählen ist das Tool des Fitnesslaifstails, vor allem der Heilige Gral der evidenzbasierten Szene schlechthin. Alle meine Klientinnen haben das hinter sich. Alle mussten früher oder später damit aufhören, weil es sie zunehmend anfing, zu triggern.

Ist Kalorienzählen also der Weg in eine Essstörung? Wie lässt sich das erklären?

Ich versuche die Frage mal subjektiv analytisch zu beantworten. Das Beispiel illustriert sehr gut, warum ich das reine undifferenzierte Theoriegelaber, problematisch sehe, wenn die Protagonisten nicht in der Lage sind, die Theorie kontextabhängig & dynamisch zu betrachten. Jemandem, auf den die später genannten Punkte zutreffen, einfach nur zu sagen: „Du trackst nicht richtig“, kann fatale Folgen haben.

Die Frage muss zunächst genau gestellt werden, denn davon hängt die Antwort ab:

🔹️Lautet die Frage „Ist Kalorienzählen essgestört?“ lautet die Antwort ohne Kontext und statisch betrachtet ganz klar:
Nein, das Kalorienzählen per se, ist eine objektive Kontrollmöglichkeit der Kalorienzufuhr, mehr nicht.

🔹️Lautet die Frage „Kann Kalorienzählen in eine Essstörung führen?“ lautet die Antwort: Es kommt drauf an….

Foto by Charles PH
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Warum?

Es kommt darauf an, WER und WARUM und mit WELCHEN Voraussetzungen jemand mit dem Kalorienzählen anfängt. Es können kumulativ mehrere Faktoren zusammen kommen, die potenziell zu einem Problem führen könnten:

Wir können ziemlich sicher davon ausgehen, dass die Mehrheit der Frauen damit anfängt, weil sie abnehmen wollen. Abnehmen wollen sie, weil sie mit ihrem Körper unzufrieden sind. Die Intention des Trackens wird dann implizit zu „Wenn ich einmal schlank bin, fühle ich mich wohler“. Wenn-dann-Denken ist immer problematisch, weil dahinter ein Kompensationsmechanismus steckt. Wie ich es bereits in den „How to get over shit“ – Posts erklärt habe, wird über einen Kompensationsmechanismus nie Zufriedenheit hergestellt, da das eigentliche Problem im Kopf nicht gelöst ist, nämlich dass der eigene Wert über den Körper und die Bestätigung von Außen abhängig gemacht wird. Stimmung und Gefühlslage sind in dem Fall stets Spielball der eigenen Körperwahrnehmung.

Das Tracken geht dann eine Weile gut und die Frau nimmt wie gewünscht ab. Im Gehirn prägt sich dann ein „Tracken⇒Kontrolle⇒Erfolg⇒Zufriedenheit“ ein. Hier spielt das Dopamin als Lernhormon wieder eine Rolle, denn wie schon oft gesagt, hilft es dabei, effektive Verhaltensmuster ins Hirn einzubrennen.

Wenn wir nun eine Frau haben, die ihre Zufriedenheit ausschließlich über ihren Körper bezieht und in diesen „Tracken⇒Kontrolle⇒Erfolg⇒Zufriedenheit“ – Modus rutscht, haben wir die besten Voraussetzungen für den Sprung in den Binge-Restrict-Teufelskreis, der oft zu beobachten ist. Bei ALLEN Coaching – Nachfragen in den letzten Jahren, war dieser gegeben, selbst als ich noch nicht öffentlich von meiner Arbeit speziell zu Binge-Eating gesprochen habe. Hier muss also mehr als meine eigene Selection Bias im Spiel sein.

Weiter geht es mit der Betrachtung, welche Faktoren im dynamischen Zusammenspiel bei einigen Frauen dazu führen können, dass das Kalorienzählen zu einem Kontrollzwang ausartet und wie eine Art Verstärker des Binge-Restrict-Teufelskreises wirken kann.

1️⃣ Mit zunehmendem Diätfortschritt wehrt sich der Körper immer mehr gegen eine weitere Abnahme und neurotische Verhaltensmuster nehmen zu. Vereinfacht gesagt, wird das Abnehmen umso schwerer, je leaner man ist. Da es diesen Frauen oftmals aber nie genug ist, rennen sie mit dem Kopf durch die Wand und diäten immer härter. Dies verstärkt die Stoffwechseladaption umso mehr. D.h., dass der Körper immer mehr dagegen ankämpft, seine eisernen Reserven herzugeben und immer mehr Mechanismen in Gang setzt, sie zum Essen zu bringen (z.B. food focus, Heißhunger, schlechte Laune, Schlafstörungen, Konzentrationsschwäche, Gereiztheit, Schwächegefühl…). Das Risiko des „Kontrollverlusts“ durch Heißhungerattacken steigt.

Man erkennt diese Art „Diätneurose“ gut daran, wie diese Frauen reagieren, wenn sie mal mehr essen müssen, als sie sich selbst erlaubt haben. Allein Erhaltungskalorien können schon Panikattacken auslösen.

2️⃣ Tracken (bzw. allgemein standardisierte, externe Ernährungsvorgaben), kann die Wahrnehmung der körpereigenen Hunger- und Sättigungssignale zunehmend verzerren, da der Fokus auf externen, oft rein quantitativen Vorgaben liegt. Bsp.: Wenn 1800 kcal das Soll sind, wird nur so viel gegessen, bis dieses Soll erreicht ist. Weiterer Hunger wird unterdrückt. Liegt man noch unter den 1800, ist aber bereits satt, wird noch irgendetwas in sich hineingestopft, um die 1800 aufzufüllen. Die WAHRNEHMUNG der internen Signale werden also zunehmend abgeschwächt. Meine persönliche Theorie ist, dass dieser Mechanismus eine wesentliche Erklärung liefert, warum wir in der Fitnessszene sehr oft Aussagen wie „ich habe kein Sättigungsgefühl mehr“ und extreme Essverhaltensmuster beobachten. Dies gilt auch nicht nur fürs Tracken, sondern jede Form einer zwanghaften Ernährungsreligion, da hier externe Normen über die internen Cues gestellt werden und binäres Denken à la „richtig vs. falsch“, „gut vs. böse“, „Kontrolle vs. Kontrollverlust“ verstärkt wird.

Ich sage bewusst Wahrnehmung, weil ich im Coaching immer weider festgestellt habe, dass Klientinnen bereits ab Tag 1 an ihre internen Hunger-und Sättigungsgefühle, durchaus wahrnehmen können, nur dass der Knackpunkt darin besteht, was danach passiert. Also können sie danach handeln oder nicht. Das ist der schwierige Teil eines Coachings, aber der Entscheidende. Es geht viel weniger darum, was die beste Diät ist, als vielmehr darum, wie man Verhaltensmuster ändert, damit sie zu optimalen Handlungen führen, die Voraussetzung für die Umsetzung einer Diät bzw. eines gesunden Lebensstils sind.

3️⃣Zudem ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass diese Frauen vor Beginn des Trackens schon die klassische Diätkarriere mit einigen Bullshit Diäten durchlaufen haben. Tracken steht meist am Ende mehrerer erfolgloser und sehr restriktiver Diäten. Da diese Diäten keinen Erfolg hatten, haben die Frauen immer weiter über Jahre nach der optimalen Lösung gesucht. In dieser Zeit, hat sich eine ganze Bibliothek an Diätregeln in ihrem Gehirn eingebrannt, die nicht einfach so verschwindet. Wenn sie in der evidenzbasierten Szene dann überall lesen „Du musst nur richtig Kalorien zählen“ und wenn du nicht abnimmst, machst du was falsch, dann wird das Tracken zum Heiligen Gral für alles und kann dazu führen, dass das eigentliche Problem nicht erkannt wird, sondern diese Frauen weiter mit dem Kopf gegen die Wand laufen, weil sie denken, Tracken ist das Non-plus-ultra. Es geht also auch darum, WIE die Kommunikation der evidenzbasierten Szene abläuft. Theorie schön und gut, aber wenn man sich wie ein Elefant im Porzellanladen verhält, bringt science auch nichts mehr und schreckt eher ab.

4️⃣Jede Form des Kontrollverlusts hat im Laufe der DIätkarriere eine subjektiv, emotionale Wertung bekommen, da sich der Mechanismus „Tracken=Kontrolle=Erfolg=Zufriedenheit“ nun so richtig schön eingebrannt hat und die eigene Zufriedenheit noch von der äußeren Bestätigung abhängt („Wenn ich einmal schlank bin, werde ich schöner und glücklicher sein“). Dies steigert den Kontrollzwang und das Schwarz-Weiß-Denken, denn:

Kontrolle ⇒ Erfolg ⇒ „ich bin gut“ ⇒ Lösung meiner Unzufriedenheit
Kontrollverlust ⇒ Versagen ⇒ „ich werde es nie schaffen“ ⇒ Druck ⇒ Kontrollzwang

D.h. wenn die Kalorienvorgaben nicht getroffen wurden oder eine Kalorienkontrolle aufgrund externer Umstände nicht möglich ist, durch bspw. soziale Anlässe, kommt das klassische „Jetzt ist auch egal“ – Denken ins Spiel. Das Tracken ist hier nur ein Symptom für den dahinterliegenden Kontrollzwang.

Das bestätigt sich vor allem, wenn ich sehe, dass sich dieser Kontrollzwang in sehr vielen Lebensbereichen dieser Frauen widerspiegelt. Im Job, Training, sozialen Beziehungen, wenn da etwas nicht nach Plan läuft, explodiert gleich alles. Hier schließt sich der Kreis zu der Antwort auf die Frage, ob das Tracken in eine Essstörung führen kann. Das Tracken kann bestimmte Verhaltensmuster verstärken, die auch unabhängig vom Tracken, bei einigen Frauen zu beobachten sind. Wenn es nicht das Tracken als Kontrolltool ist, wäre es etwas anderes. Der Kontrollzwang ist also das Problem. Für diese Menschen ist Tracken keine gute Idee.

Wer sich nicht sicher ist, ob sein Verhältnis zum Kalorienzählen noch „gesund“ ist, kann einfach mal den Selbsttest machen, was mental passiert, wenn die Kontrolle wegfällt. Wenn du problemlos on and off gehen kannst, ohne auszuflippen, go for it. Wenn du durchdrehst, weil du deine Makros nicht getroffen hast bzw. keine Kontrolle über dein Essen hast, wäre es an der Zeit, mal aufzuwachen.

Ihr seht also, wie komplex das Ganze ist und dass hier viele Faktoren zusammenkommen. Das Tracken per se, ist nur eine Methode. Wird diese Methode aber von Menschen angewendet, die nicht in der Lage sind zu reflektieren, wo ihr eigentliches Problem liegt, kann dies in der Tat eine explosive Mischung werden.

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