Omascience

Heute reise ich aus meinem kleinen bescheidenen Paradies am Rande der Welt, in dem ich keine Heizung, keine Waschmaschine, kein bequemes Bett, manchmal kein Strom, kein Wasser, keine Spiegel, kein Gym, aber dennoch so viel mehr als im reichen Deutschland habe und ich habe richtig Angst.

Ich bin zwar in Deutschland geboren, aber trage wohl eher die südländische Mentalität in mir. In Deutschland fühle ich mich fremd und in Bulgarien und auch Griechenland (Beide Länder sind in vielerlei Hinsicht sehr ähnlich) zu Hause. Als Kind bin ich viele Jahre auch nach Kreta gefahren und es hat für mich kaum einen Unterschied zu Bulgarien gemacht.

Jedenfalls wacht in mir alles auf, wenn ich die Wärme, die raue Natur, das typische Zirpen der Grillen in der Dämmerung, die Herzlichkeit der Menschen und ihre Mentalität und natürlich das Essen um mich habe.

In Berlin fühle ich mich niedergeschlagen und ein Teil von mir fühlt sich an, als müsse er ums Überleben kämpfen. Mich belasten die Betonwüsten, die Tristesse, die Aggressivität, Unfreundlichkeit und das Misstrauen der Menschen, die so unglücklich und kaputt von ihrem reichen Leben aussehen, von dem sie dennoch nie genug bekommen können.

Dennoch bin ich dankbar, dass ich das Glück habe, diese beiden Welten zu kennen um zu wissen, was mir gut tut und was nicht um mein Leben entsprechend einzurichten. Es gibt so viele Menschen, die nie die erfahren werden, wer sie sein könnten, wenn sie aus ihrer Blase, die für sie die Normalität ist, ausbrechen könnten.

“He who fears suffering already suffers from his fear.”

Michel de Montaigne



Das macht mich oft traurig, aber den Willen das herauszufinden, muss jeder selbst entwickeln. Man kann niemanden zu seinem Glück zwingen. Früher habe ich zu oft versucht Menschen zu retten, die nicht gerettet werden wollen. Davon abzulassen, musste ich erst lernen, aber alles andere ist sinnlos.

In der Tat haben sich viele von euch, allein durch die Bilder anstecken lassen. Ihr habt euren eigenen Alltag überdacht und habt zumindest eine Ahnung davon, in welcher Blase wir Wohlstandsmenschen leben.

Allein die Bilder der Märkte, die Gerichte, Zubereitungsarten und die Wertschätzung und der Umgang mit Lebensmitteln hat in euch einiges bewirkt.

Dazu nochmals ein paar Gedanken:

Dass ich immer wieder metaphorisch von meinen Omaweisheiten spreche, hat, wie eigentlich immer bei mir, einen tieferen Sinn.

Ich weiß, dass nicht jeder das Glück hatte, so eine Oma zu haben, aber grundsätzlich habe ich über die Jahre und zuletzt vor allem, bei meiner Arbeit in der Fitnessszene gemerkt, dass etwas total schief läuft und dass es den Menschen, nicht wirklich besser geht, auch wenn wir mehr über Ernährung & Training wissen.

Im Gegenteil, ich habe in relativ kurzer Zeit eine massive Verschlechterung registriert. Allein in den letzten 2 Jahren ist irgendetwas passiert, dass die Ausbreitung von hormonellen Problemen, essgestörtem Verhalten, Bodydismorphia und psychischen Problemen beschleunigt  hat.

Bei mir kommt vieles zusammen, was meine Perspektive und Arbeit in der Szene sehr speziell macht.

Zum einen, dass ich selbst aus sehr unterschiedlichen Sportarten komme, die unterschiedliche Ansprüche an meinen Körper gestellt haben. Bei denen aber auch das Gewicht eine entscheidende Rolle für die Performance spielte. Somit habe ich jahrelange Erfahrung damit, mein Gewicht intuitiv für maximale Leistungsfähigkeit zu regulieren. Ich hatte keine Ahnung von Ernährung, geschweige denn vom Kalorienzählen, aber ich brauchte es auch nicht. Über die Jahre habe ich meinen Körper gut genug kennengelernt, um zu wissen, wann ich was und wie machen muss.

Zum anderen auch die Tiefschläge durch Verletzungen, der Hintergrund meiner persönlichen, nicht einfachen Geschichte und schließlich mein Werdegang in der Fitnessszene, wo ich in jedem Bereich von der “evidenzbasierten” bis zur Fitnessbarbie-Szene und vom Powerlifting bis zum Bodybuilding, gearbeitet habe. In dem Fall habe ich die Angebotsseite also sehr gut kennengelernt.

Schließlich dann meine Erfahrungen durch das Coaching, wodurch ich hautnah an den Menschen, die das Fitnessangebot konsumieren, dran bin.

On top dann noch jede Menge wissenschaftliche Theorie über Training, Ernährung, Psychologie und Physiologie…

Nun ja und dann bin ich noch jemand, der ganz gut im Muster scannen und Logik und dann noch hochsensibel ist. Das heißt, neben all dem oben genannten, fühle ich, was in Menschen vor sich geht. Manchmal bevor sie es selbst bewusst fühlen.

Ich bin also eine explosive Mischung, die dazu führt, dass ich mit vielem in der Fitnessszene verdammt unzufrieden bis wütend bin, weil ich sehe, was da angerichtet wird und wie die Gesundheit von Menschen leichtsinnig zerstört wird. Sowas will nicht in meinen Kopf.




Worauf ich hinaus will:

All das hat nicht dazu geführt, dass ich Frauen mit wissenschaftlicher Theorie, Zahlen und Regeln bombardiere, sondern alles radikal ausmiste und alles so einfach wie möglich und eher back to basics mache.

Das heißt all meine Erfahrung und all mein Wissen hat dazu geführt, dass ich gemerkt und beobachtet habe, dass Probleme immer dann auftreten, wenn sich Menschen von ihren Wurzeln entfremden und Handlungen und Entscheidungen auf Basis externer, detaillierter, standardisierter Vorgaben, Regeln & Theorie, treffen und verlernen, Symptome ihres Körpers als Signale, das etwas schief läuft, zu interpretieren. Oder anders gesagt, Probleme treten oft (nicht immer) dann auf, wenn Menschen übermäßig kopfgesteuert agieren und die Lösung in allem in mehr Kontrolle sehen.

Mir ist aufgefallen, dass der Trend dahin gegangen ist, dass Menschen a priori davon ausgehen, dass mit ihrem Körper etwas nicht stimmt, wenn er nicht das macht, was er nach einem normierten, künstlichen Schönheitsideal und dem gesellschaftlichen “No pain, no gain” und hustle-mode Werten, machen soll.

Psychologisch ist diese Bias zwar einfach zu erklären, dennoch scheinen die Menschen mit einem Brett vor dem Kopf durchs Leben zu laufen und glauben, dass die Lösung darin besteht, mit diesem Brett vor dem Kopf, dann auch noch immer wieder mit voller Kraft gegen die Wand zu laufen, statt das Brett mal abzunehmen und sich die Situation mit Abstand zu betrachten, um den Ausweg zu sehen.

Nach dem Motto “Das geht nicht, also muss ich mich noch mehr anstrengen, noch mehr machen, noch mehr disziplinieren.”



“We cannot become what we want by remaining what we are”

Max Depree





1. Ein Drogenjunkie entwickelt auf Dauer eine gewisse Resistenz gegenüber seiner Droge und braucht nun immer mehr davon, um noch einen Effekt zu spüren. Die Lösung ihn gesund zu bekommen, liegt nun nicht darin, ihm immer mehr seiner Droge zu geben. Er bekommt zwar für einen Moment sein High, fällt dann aber in ein umso tieferes Loch, je weiter dieser Teufelskreis gesponnen wird. Auf Dauer ist ihm also mit “mehr” nicht geholfen, auch wenn es sich kurzfristig für ihn angenehmer anfühlt. Der Entzug von seiner Droge fühlt sich anfangs absolut falsch und furchtbar an, doch das ist der Preis für seine Unabhängigkeit, der sich irgendwann auszahlen wird. Eine kurzfristige, affektive Befriedigung hat meist langfristig einen hohen Preis und dieser korreliert positiv mit dem Grad der Befriedigung.



2. Je härter, fortgeschrittener und restriktiver eine Diät ist, desto massiver wird sich der Körper wehren. Wenn der ohnehin schon sensible Körper einer Frau, der so konstruiert ist, dass in ihm Leben wachsen kann, über Monate und Jahre Alltags-, Trainings-, Psychostress mit einer energie- und nährstoffarmen Ernährung auskommen soll, weil sie einem unrealistischem Schönheitsideal entsprechen soll, muss man sich nicht wundern, wenn das schief geht. Man braucht keine Wissenschaft um die so offensichtlichen Zusammenhänge zwischen dem gegenwärtig propagiertem Fitnesslaifstail und all den physiologischen und psychischen Problemen zu sehen. Man muss nur mal 1 und 1 zusammenzählen und wer das nicht kann, sollte Abstand davon nehmen, sich als “evidenzbasiert” zu bezeichnen. “Evidenzbasiert” bedeutet nämlich genau in dem Punkt, die Fähigkeit 1 und 1 zusammenzählen zu können.

Frauen, die schon unzählige Diäten hinter sich und 278101 Ernährungsregeln im Kopf haben, die bei jedem Essen in ihrem Kopf arbeiten, mit noch mehr Science und Regeln zu bombardieren, ist ungefähr so, als würde man versuchen ein Feuer mit Öl zu löschen.

Mir ist nicht klar, wie man erwarten kann, dass Menschen, die ohnehin schon mit ihrem Körper und ihrer Psyche kämpfen, mit künstlicher Nahrung, unzähligen schwarz-weiß-Dogmen, einem Aufwand, der auf Dauer nicht alltagstauglich ist und inszeniertem Entertainment zu mehr körperlicher und geistiger Gesundheit verhelfen will. Das ergibt einfach keinen Sinn.

Oder es ergibt eben nur Sinn, wenn man von der Brandstiftung irgendwie profitiert. Eine andere Logik für diese Idiotie gibt es nicht.



3. Wenn ich beim Plantschen im Meer in einen Sog gezogen und aufs offene Meer getrieben werde, besteht die Lösung nicht darin, mit aller Kraft gegen den Sog zu kämpfen und intuitiv zu versuchen geradeaus Richtung Ufer zu schwimmen. Das führt nur dazu, dass ich mehr Kraft verliere und immer weiter hinaus getrieben werde, weil die physische Kraft eines einzelnen Menschen nun mal nicht gegen diese Kraft der Natur ankommt. Vielmehr besteht die Lösung darin, dass man möglichst cool bleibt und quer schwimmt. Dürfte ich selbst schon einmal testen und hat mir das Leben gerettet.




Lange Rede kurzer Sinn.

Der Großteil der Produkte und Informationen der Fitnessindustrie richtet sich nicht an Profibodybuilder und Menschen, die Zeit und Nerv haben, ihr Leben komplett ihrer Optik unterzuordnen.

Menschen werden durch Komplexität eher überfordert und sind einfach emotionale Wesen, die selten das tun, was für sie das Beste wäre, v.a. wenn es zunächst unangenehm ist. Sie machen eher das, was andere machen, was ihr Ego schützt und was vertraut ist, selbst wenn sie sich damit schaden. Das sehen sie oft aber nicht.

Wenn ein Körper nun krank wird, hormonelle Probleme entstehen, verrückt spielt, die Psyche in den Eimer geht, dann liegt das nicht daran, dass der Körper etwas falsch macht, sondern, dass der Kopf etwas machen will, was dem Körper nicht gut tut, weil er eher auf das hört, was von der Außenwelt erwartet wird, als auf das, was dem eigenen Körper wirklich gut tut.



Beispiele

  • Das Zerdenken von Gedanken
  • Sich selbst dabei zusehen, wie man etwas macht, was man nicht machen will
  • Dinge, auf sich beziehen
  • Nur Probleme und Negatives sehen
  • Sich in Details verrennen
  • Versagensangst
  • Prokastination

All dies sind typische Symptome dafür, dass der Flucht- und Kampf-Modus eines Menschen aktiv ist und das passiert nur bei Stress. In dem Fall psychischer Stress. Wie oft genug erklärt, ist die Stressantwort des Körpers immer die Gleiche. Er unterscheidet nicht zwischen physischem oder psychischem Stress und realen oder imaginären Stressoren.



Unser Körper und unsere Psyche kann mit uns nur in Form von Symptomen kommunizieren. Dies ist seine Sprache!

Wenn wir etwas tun, das uns nicht gut tut oder schadet, dann geht es uns schlecht. Das ist ein Symptom und kein Fehler! 


Statt mit dem Kopf durch die Wand und immer gegen den Körper zu arbeiten, ihn als Feind, als fehlerhaft, als unkontrollierbar zu verurteilen, sollten Menschen wieder lernen, ihrem Körper zuzuhören.

Wenn der Körper verrückt zu spielen scheint, besteht die Lösung nicht darin, ihn noch mehr mit dem zu quälen, was ihn verrückt gemacht hat, sondern sich zu fragen “Was willst du mir sagen?”

Die Funktionen unseres Körpers sind für Fortpflanzung und Überleben ausgestattet. Wenn er diese in Gefahr sieht, wird er sich wehren. Wenn wir also körperliche oder mentale Veränderungen, Erkrankungen, Dysfunktionen feststellen, ist nicht der Körper das Problem, sondern das, was wir mit ihm bzw. uns machen. Unsere Psyche ist auch nur ein Spiegel dessen.






So banal es auch klingt, haben die Menschen verlernt, auf diese Symptome zu achten. Grund dafür ist, dass wir in einer immer komplexeren Welt leben.

Für einen Menschen ist es unmöglich diese Komplexität zu kontrollieren, noch tut es ihm gut, noch ist es ratsam. Je mehr ich etwas kontrollieren will, desto eher werde ich daran scheitern.



All dies ist der Grund, warum ich immer wieder mit Oma Geschichten komme, denn unsere Omas waren durch Kriege, Armut und fehlendem Luxus dazu gezwungen, um ihr und das Überleben ihrer Kinder zu kämpfen. Dies hat dazu geführt, dass sie intuitiv vieles richtig gemacht haben ohne die Bequemlichkeiten unserer Wohlstandsgesellschaft zur Verfügung zu haben.

Hinzu kommt, dass Frauen ohnehin ein besonderes Gespür für die Bedürfnisse anderer haben und Mutterinstinkt nun mal keine Science braucht, um zu wissen, was das Kind braucht. Dieses wertvolle Gut sollte heutzutage vielmehr als eine Art Wegweiser geschätzt werden. Omas waren darin Meister, weil sie in ihren Köpfen, die Erfahrung für das Wohlbefinden und Überleben ganzer Familien steckt, sie wissen, wie Kinder am besten groß werden, aus den Fehlern und Tiefphasen ihres Lebens gelernt haben und keine Studie dieser Welt an diesen Wissensschatz heran kommt.

Für uns Fitnessmenschen, die Informationen an Menschen, die Fitness machen wollen, verteilen, ist es wichtig auch die Theorie zu kennen. Doch unser Job besteht nicht darin, ohnehin schon überforderte Menschen, mit noch mehr Theorie zu bombardieren, sondern sie zu entlasten, die Komplexität, Überforderung und das Brett vor dem Kopf zu nehmen.

Ich erzähle viel über das einfache Essen meiner Oma und vermittle Wissen ohne quantitative Informationen, was auch daran liegt, dass ich gesehen habe, dass der einseitige Fokus und die Unfähigkeit 1 und 1 von Praxis und Theorie, zusammenzuzählen, dazu führt, dass Theorie der Praxis unreflektiert und undifferenziert übergeordnet und vermittelt wird. Das führt zu massiven Problemen.

Wir wissen über Ernährung, Training und Physiologie sehr viel, aber eben nicht alles. Studien betrachten meist nur sehr spezifische Fragestellungen. Einzelne Variablen werden also ceteris paribus spezifisch betrachtet. Die Ergebnisse gelten dann also nur unter der Voraussetzung, dass andere Variablen konstant gehalten werden.

Fitnessmenschen brauchen nun die Fähigkeit, die Konsequenzen der Antworten auch bei Variabilität der zuvor konstant gehaltenen Variablen anzuwenden. Studienergebnisse müssen also mutatis mutandis abgeleitet werden. Und hier wird die Irrationalität des Menschen wieder eine Fehlerquelle. Hinzu kommt dass viele Fitnessmenschen nicht sehr empathisch agieren oder in der Lage sind Psychologie mit einzubeziehen, was aber notwendig ist, da wir es hier nun mal nicht mit Laborratten in einem Käfig, sondern Menschen in einer komplexen Umwelt zu tun haben.

Wir wissen also ganz viel nicht und Fakt ist, dass ich allein mit isolierter Betrachtung der Kalorienbilanz, Vorgaben von x g Gemüse und “Krafttraining über alles”, niemanden auf Dauer helfe. Im Gegenteil.

Auch WAS wir essen, hat entscheidenden Einfluss auf unseren Körper und unsere Psyche. Vieles davon können wir bisher nur beobachten und erahnen, wissen es aber nicht genau. Und wenn wir etwas nicht wissen, müssen wir unsere Erfahrungen und Beobachtungsgabe einsetzen. Darin waren Omas ziemlich gut.


Ich kann mir nicht vorstellen, dass Pulver- und Industrienahrung langfristig spurlos an unserem Körper vorbei geht und solang wir nicht exakt wissen, was es mit uns macht, sollten wir hier sehr vorsichtig sein. Jedenfalls sehe ich eine massive Veränderung der psychischen und physischen Gesundheit und des gesamten Essverhaltens meiner Klientinnen, wenn sie Abstand von der Fitnessblase, so wie sie aktuell ist, nehmen und ihr Leben massiv vereinfachen. Und letztendlich ist es mein Job, ihr Wohlbefinden zu verbessern.

Wenn wir den Lebensstil unserer Omas leben, leben wir das, was jemand, der uns bedingungslos geliebt hat, für am Besten erachtet hat. So falsch kann das eigentlich nicht sein und ist im Zweifelsfall vielleicht zuverlässiger als das, was eine Fitnessbarbie, die mich nicht kennt, als das Beste für mich erachtet.

Dies ist die Erkenntnis, zu der ich nach all den Jahren an Theorie und Praxis an mir selbst und vielen Frauen gekommen bin.

Ich habe dazu nur leider keine Studie, nur meine Weibchenfeels, Erfahrung und Beobachtung.
Ist also nach heutigem Maßstab nichts Wert.

#science