Wie Essensgeschichten zu gegessenen Geschichten werden

Wie ihr gestern sehen konntet, spielt Essen auch in Ländern mit einem etwas anderen Fitnesslaifstail eine Rolle und zwar mindestens eine genauso große Rolle, wie für Fitnessmenschen mit fancy Fitnesslaifstail.

Das liegt einfach daran, dass Menschen gern essen und ihr Körper auch so konstruiert ist, dass er Essen sehr mag. Anders wäre auch doof, weil es dann wohl keine Menschen gäbe.

Na egal, jedenfalls gibt es zwischen dem Oma Fitnesslaiftsail-Essen und dem fancy Fitnesslaifstail-Essen zwei markante Unterschiede:

  1. Das Oma Fitnesslaifstail-Essen wird nicht auf Insta gepostet (außer bei Pornomuddi)
  2. Das Oma Fitnesslaifstail-Essen zeigt keine Symptome wie Essstörungen und Zyklusstörungen.

Die Gründe für 2. werde ich an anderer Stelle noch genauer erläutern, denn dies ist ein komplexes Zusammenspiel, aus Biorhythmus, Sozialgefüge, Mentalität, Traditionen, Wertesystem, Aktivitätslevel, Essverhalten und Lebensmittelauswahl.

Heute soll es um etwas anderes gehen: Wenn ihr die Bilder den frischen Lebensmittel vom Markt seht, ist unschwer zu erkennen, dass wir diese in der Qualität bei uns in Deutschland nicht mehr bekommen. Das Traurige ist zusätzlich, dass selbst das nicht der Qualität entspricht, die ich noch als Kind kennen lernen dürfte. Was nun übrig ist, löst höchstens kleine Geschmacksfunken im Gegensatz zu den kulinarischen Geschmacksexplosionen aus, die ich von früher kenne und dennoch macht es immer noch einen enormen Unterschied.

Es kommt aber noch ein entscheidender Faktor hinzu, den Jede von euch kennen wird und neben physiologischen Gründen, ein Grund ist, warum das Ding mit der isolierten Betrachtung der Kalorienbilanz für viele Menschen zu einfach gedacht ist und langfristig nicht funktioniert:

WIR ESSEN NICHT NUR KALORIEN. WIR ESSEN AUCH GESCHICHTEN.

Unser Essverhalten und Lebensmittelauswahl ist entscheidend davon geprägt, welche Geschichten, Erinnerungen, Erfahrungen und somit Gefühle wir mit Gerichten und Lebensmitteln verbinden. Daher haben die Erfahrungen, die kleine Kinder früh mit Lebensmitteln machen, einen enormen Einfluss auf ihr späteres Essverhalten als Erwachsene und hier v.a. das emotionale Essen.

Denn emotionales Essen lässt sich kaum vermeiden und bis zu einem gewissen Grad einfach normal. Einem kleinen Kind, dass von Mama oder Papa sein Lieblingsessen bekommt, wenn es traurig ist, wird man wohl kaum eine Essstörung diagnostizieren. Bis zu einem gewissen Grad, ist es eben auch einfach eine simple, effektive coping Strategie, denn das Kind nimmt hier nicht einfach nur Kalorien zu sich, sondern auch Geborgenheit, Sicherheit und Liebe.

Der entscheidende Punkt, ob emotionales Essen im späteren Leben problematisch werden kann, ist, ob das Kind diese Liebe ausschließlich über dieses Essen erfahren hat (Kind schreit und wird mit Essen ruhig gestellt und lebt sonst in einer emotional kalten Atmosphäre) und auch mit WELCHEN Lebensmitteln und Gerichten das Kind positive und negative emotionale Erfahrungen macht.

Daher ein paar persönliche Anekdoten, die illustrieren, wie resistent ein Kind gegen Ernährungsbullshit werden kann, wenn es schöne Geschichten mit „wertvollen“ Lebensmitteln erfahren darf.

Annas Tomatenankedote

Als Wasser noch nicht so teuer war, pflanzte mein Opa auch Tomaten in unserem Garten. Tomaten sind bulgarische Essentials und schmeckten schon immer ganz anders als in Deutschland, nämlich nach Tomaten und nicht nach Wasser. So wie überall im Mittelmeeraum und in der Balkanregion. Dort sind v.a. Ochsenherztomaten verbreitet. Für klein Anna waren Ochsenherztomaten riesig und daher faszinierend, weil Anna ja noch so klein war, dass große Tomaten wirklich riesig sein können.

Jedes Jahr, wenn klein Anna zu Oma und Opa kam, stürzte sie sich auf die riesigen geschmacksintensiven Tomaten mit Schafskäse, Salz und Tschubritza, dem traditionellem Gewürz, das geschmacklich einer Mischung aus Bohnenkraut, Oregano und Thymian gleicht.

Ochsenherztomaten waren also etwas Besonderes für klein Anna. Deswegen hat sich klein Anna immer heimlich in den Garten geschlichen, sich zwischen den Tomatenpflanzen versteckt und „Finde die größte Tomate“ gespielt. Da war klein Anna noch so klein, dass sie die größten Tomaten kaum mit ihren beiden Händen halten konnte und genau das war so spannend daran.

Wenn klein Anna die größte Tomate gefunden hatte, hat sie diese heimlich zwischen den Tomatenpflanzen gegessen. Immer mit dem prüfenden Blick nach oben zur Terrasse, dass sie dabei auch ja nicht erwischt wird, weil meine Oma von der Terrasse aus, stets prüfte, ob Anna auch nichts passiert. Dann war klein Anna im Himmel. Die Sonne im Nacken, zwischen den Tomatenpflanzen mit den riesigen Tomaten, die so nach Liebe geschmeckt haben, weil es diese nur in dem Land meiner Großeltern gab.

Wenn ich heute Tomaten esse, esse ich diese Geschichte für die ich dankbar bin, denn ich weiß, dass es kaum Kinder gibt und immer weniger geben wird, die überhaupt auf die Idee kommen, Tomaten statt Industriefutter aus Plastikverpackungen zu „naschen“.



Annas Himbeeranekdote

Himbeeren gehören für Anna ebenfalls zu den Essentials. Es vergeht quasi kein Tag ohne eine Himbeere. Tag 6 in Bulgarien und Anna hat bereits über 5kg Himbeeren vernichtet. Kein Witz.

Denn Himbeeren sind für Anna ebenfalls Liebe, weil klein Anna mit Himbeeren viel Liebe erfahren hat. Wenn klein Anna im Sommer immer zu Oma und Opa gekommen ist, sind wir immer gemeinsam ans Meer gefahren. Dort ging es morgens auf dem Weg zum Strand immer einem Trampelpfad entlang an dem es Himbeersträucher gab. Mein Opa setze mich immer auf seine Schulter und pflückte die Himbeeren am Wegesrand und reichte sie mir immer nach oben. Seitdem verbinde ich mit Himbeeren Liebe.

Jedes Jahr wenn ich nach Bulgarien kam, hat meine Oma daher die ganzen Monate tonnenweise Himbeeren gesammelt und in einem Nur-für-Annas-Himbeeren-Tiefkühlschrank bewahrt, damit ich Tonnen an Himbeeren essen konnte, wenn ich kam. Und sie hat diesen Tiefkühlschrank vor allen Himbeerdieben verteidigt, damit nicht eine einzige Himbeere verloren geht.

Seitdem esse ich jeden Tag Himbeeren, denn Himbeeren sind Liebe für mich.


Annas Feigen- Milchanekdote

Klein Anna war ebenfalls eine große Feigenvernichterin. Das wusste auch die gesamte Nachbarschaft auf unserem Berg in Bulgarien. Meine Oma hat vor meiner Ankunft daher alle Nachbarn mit Feigenbäumen in Kenntnis gesetzt, dass sie bald ihren lästigen Feigenüberschuss bei Anna abliefern können. Wenn Anna dann da war, stand fast jeden Morgen ein Eimer Feigen vor der Tür, den ich dann mit meiner Oma verdrückt habe.

Die Feigen von Djado Milan waren die besten. Djado Milan ist nun 92 und ist der Mann mit der Ziege Peppa, von dem meine Oma immer die frische Ziegenmilch gekauft hat, um mir Joghurt zu machen.

Dazu musste die Milch erst abgekocht werden. Beim Abkochen setzt sich das Fett oben auf der Milch ab. Das hat meine Oma immer abgeschöpft und mir zu essen gegeben. Lowfat kennt man im Omafitnesslaifstail nicht, denn Fett war wertvoll und wurde zuerst immer den Kindern gegeben.

Seitdem sind Feigen und Milch Liebe für mich. Nur dass es diese Milch nirgends mehr gibt.

Ich hatte viel Glück, mit den Geschichten, die ich mit Lebensmitteln essen dürfte, die gut für mich sind. Das habe ich daran erkannt, dass ich eben immer lieber zu Tomaten, Himbeeren oder Feigen statt Industriefutter aus Plastikverpackungen genascht habe, wenn es mir gut gehen soll.

Als Kind war ich einmal bei einem Kindergeburtstag bei dem es das Highlight sein sollte, bei McDonalds Burger essen zu gehen. Für alle anderen Kinder war es ein Highlight, für mich war es ein Schock. Ich konnte den Geruch nicht ausstehen und das Essen war furchtbar für mich. Dies war auch das einzige Mal, dass ich in so einem Laden war. Seitdem nie wieder.

Wenn nun kleine Kinder solche Liebesgeschichten wie ich mit Tomaten & Co mit Burgern & Co. erleben, braucht man sich auch nicht wundern, warum diese Kinder als Erwachsene von dem Essen nicht los kommen. Denn abgesehen, von der Geschichte, die sie damit verbinden und der höheren Kaloriendichte, die sie so zu sich nehmen, sind dies auch Nahrungsmittel, die so präpariert sind, dass sie Menschen dazu bringen, mehr davon essen zu wollen. Denn es sind kleine Kalorien-, Kohlenhydrat-, Fett-, Salz-, Zucker- Geschmacksverstärkerbomben, die auch noch in bunten Verpackungen und Spielzeug als Happy Meal von Mama und Papa für ihre Kinder gekauft werden können. Diese Happy Meals werden dann die Geschichten, die kleine Kinder essen.

Eine isolierte Betrachtung der Kalorienbilanz ist also zu kurz gedacht, wenn man Menschen wirklich helfen will, ein Essverhalten zu entwickeln, dass Übergewicht und gesundheitliche Konsequenzen vermeidet. Die Wahrscheinlichkeit Tomaten, Himbeeren, Feigen & Milch im Gegensatz zu Burgern zu bingen ist nämlich deutlich geringer.

Wir können auch unendlich belehren und predigen, dass es keine guten und bösen Lebensmittel gibt, dass alles in Maßen erlaubt ist etc. aber das beseitigt eben nicht von heute auf morgen die Geschichten in den Köpfen der Menschen, die sie mit Lebensmitteln erfahren haben. Statt ausschließlich über Kalorien zu informieren, müssen wir darauf achten, welche Geschichten und emotionalen Erfahrungen Menschen mit Lebensmittel machen. Das gilt nicht nur für die Geschichten, die sie in ihrem persönlichen Umfeld erfahren, sondern auch die Geschichten, die verkauft werden. Denn wenn die allseits beliebte Fitnessbarbie begeistert erzählt, dass sie mit Produkt X total glücklich geworden ist, ist das eben auch eine Geschichte, die später mit Produkt X gegessen wird.

Jedem ist inzwischen klar, was man tun muss, um abzunehmen. Doch kaum jemand schafft es langfristig und dies liegt eben u.a. an den Geschichten, die Menschen mit ihrem Essen essen. Und Geschichten sind eben immer auch Emotionen und Emotionen etwas, das oft stärker ist, als jede Rationalität. Auch wenn Emotionalität, Rationalität nicht ausschließt, gewinnt sie meist ausgerechnet dann, wenn es am schwierigsten ist, ihr zu widerstehen.