Wenn das Leben passiert

Wir Menschen lieben das Schubladendenken, weil wir darin besonders gut sind, es sehr einfach ist und es unserem Ego ein gutes Gefühl gibt, uns einfach das Recht heraus zu nehmen, über andere urteilen zu können.

Wir sind auch besonders gut darin, dies bei Menschen anzuwenden, über die wir eigentlich gar nichts wissen. Das ist auch nicht wichtig, schließlich reicht ja, was wir sehen. Wenn jemand doof aussieht ist der auch doof. Wenn jemand was nicht kann, dann ist er unfähig. Fertig.

Wozu sollte man denjenigen auch nach seiner Geschichte fragen?

Wozu sollte man denn fragen “Wie geht es dir?”, wenn jemand traurig und müde aussieht.
Wozu sollte man fragen “Was verletzt dich?”, wenn jemand wütend ist?
Wozu sollt jemand fragen “Was belastet dich?”, wenn jemand nicht das Potenzial abrufen kann, das eigentlich in ihm steckt?

Vermutlich machen wir das nicht, weil unser Ego dann lernen würde, dass unsere Sicht auf die Welt, nicht die absolute Wahrheit ist. Vermutlich, weil wir dann dazu lernen müssten und erkennen würden, dass wir keine Lust haben, das Leid, welches andere Menschen, mit sich herumschleppen, zu teilen. Das macht nämlich keinen Spaß und füttert unser Ego nicht.

Wenn ich eine Verkäuferin an der Kasse sehe, die wie ein Roboter täglich stundenlang monoton die gleiche Tätigkeit durchführt, die während ihrer Arbeit permanent unter Zeitdruck steht, Waren abzukassieren und gleichzeitig riesen Warenpaletten zu verräumen und sie dann noch die Unfreundlichkeit und Wut von Kunden abbekommt, denen es nicht schnell genug geht, macht mich das wütend. Denn niemanden interessiert, dass sie sich nach dieser Arbeit als alleinstehende Mutter noch um ihr kleines Kind kümmert, ihm versucht, das letzte bisschen Energie, das sie noch übrig hat, zu schenken, damit es nicht mitbekommt, wie müde und kaputt die Mutter vom Leben ist. Von außen, sieht man nur eine kaputte Frau, die nicht dem gängigen Schönheitsideal entspricht. Wie kann sie nur.

Dies ist nur ein Beispiel und wir finden unzählige Beispiele in unserem Alltag, im Job oder im Sport, wenn wir nur genau hinsehen und nachfragen würden.

Ich bin mir ziemlich sicher, dass die Welt ein wenig netter wäre, wenn wir unser Ego und Schubladendenken alle ein wenig einstellen würden. Wenn wir uns eher fragen würden “Was ist wohl seine/ihre Geschichte?” bevor wir leichtfertig urteilen.

So wie bei Agnes. Agnes erzählt in ihrem Beitrag von einem, für sie sehr schweren Wettkampf, in dessen Vorfeld sie ihre Mutter verlor. Nur wenige Menschen wussten davon und auch heute noch, ist es alles andere als leicht für sie, darüber zu reden. Zumal die Gewichte, an denen sie in diesem Wettkampf gescheitert ist, sie auch heute noch immer wieder an dieses Ereignis erinnern.

Von außen sah man nur Agnes bei einem Wettkampf, bei dem sie unter ihrem Potenzial blieb. Doch keiner wusste, dass es der vielleicht schwerste Wettkampf ihres Lebens für sie war, weil die Last der Trauer, jedes Gewicht zu schwer machte.

Anna

Wenn das Leben passiert

Foto by Faisal Yassin
Foto by Faisal Yassin

Vor kurzem habe ich ein Foto von meinem letzten Kraftdreikampf Wettkampf gepostet – der Raw Landesmeisterschaft des BVDK in Bayern.

Es war mein vierter Wettkampf – nachdem der erste überhaupt nicht geplant war und auch mehr als zufällig stattfand (siehe mein erster Blog und der Weg zum Powerlifting überhaupt), ich beim zweiten – der LM in Bayern 2017 – leider mit einer Latzerrung lädiert war und deshalb nur nötigste Gewichte bewegt hatte und bei meiner ersten Deutsche Meisterschaft 2017 vorher eine High Speed Diät im Peak gemacht hatte, was meine Leistungen schon etwas zum Einbußen gebracht hatte – hatte ich mich auf diesen Wettkampf mehr als gefreut und wollte endlich so richtig abliefern.

Aber manchmal kommt einem das Leben dazwischen – was ich damit meine- die Vorbereitung und der Wettkampf selbst wurden für mich zum bisher schwierigsten überhaupt.

Was war passiert?

Ca. 2 1/2 Monate vor dem Wettkampf wurde bei meiner Mama völlig unerwartet – bei einer Routineuntersuchung – ein Tumor an der Leber festgestellt – inoperabel und schon mit Metastasen in der Lunge. Eigentlich war die Diagnose von Anfang an ziemlich klar und leider auch ziemlich hart – trotzdem und vielleicht auch genau deshalb verliert man in so einer Situation die Hoffnung nicht und nie, und versucht alles, hofft alles und möchte in dieser Situation – wie eigentlich sowieso immer – stark sein – für meine Mama, für meine und mit meiner Familie und natürlich auch für mich selbst.

Das hat anfangs für mich auch einigermaßen gut funktioniert – da war ich auch noch nicht im Peak (Vorbereitungscycle für den Wettkampf) und im Training hat alles wunderbar funktioniert – auch wenn zu meinem Workload (Unterrichten, Konzerte und damit auch viel unterwegs zu sein) , 4x Training die Woche – jetzt noch diese psychische Belastung und das fast wöchentliche Pendeln zu meinen Eltern dazu kam…

Ich wollte wie immer für alle und alles stark sein, und habe deshalb auch nur meinen besten Freunden von meiner Situation erzählt. Das hat auch alles so einigermassen funktioniert – auch weil ich nie die Hoffnung verloren habe, dass es irgendeine Rettung für meine Mama gibt – selbst die Hoffnung einer Wunder – oder Spontanheilung, war für mich als eigentlich realistisch denkender Mensch nicht mehr auszuschließen.

Sechs Wochen vor der Landesmeisterschaft begann dann meine Vorbereitung auf diesen Wettkampf – ich hatte mich, trotz aller persönlichen Umstände so sehr oder vielleicht auch erst recht deshalb auf diesen Peak gefreut. Die Gewichte werden höher, man darf schwere Singles bewegen und so weiter. Nicht im Traum hätte ich daran gedacht, dass das passieren wird, was passiert ist.

Ich konnte mich bis dahin immer auf meinen Körper verlassen. In der ersten Woche des Plans lief auch alles noch so wie es sein sollte – ich konnte problemlos alles so machen, wie es im Trainingsplan vorgesehen war. Aber ab der zweiten Trainingswoche kam von einem Moment auf den anderen der komplette Einbruch bei der Kniebeuge und beim Bankdrücken . Gewichtsvorgaben mit 4×2 konnte ich gerade mal als drei Singles beugen . Auf der Bank habe ich in jedem zweiten Training gefailed und jedes Training glich für mich einem persönlichen Desaster.

Vor jedem Training wurde die Angst größer, wieder nicht das schaffen zu können was im Plan steht. Jedes Training war ich den Tränen nahe, nach jedem Training musste ich meinem Coach sagen, dass ich die Gewichte wieder nicht geschafft habe und dabei wollte ich doch für alle und alles so stark sein und dann natürlich auch im Training. Aber ich konnte mich nicht einmal mehr auf meinen Körper verlassen. Wie konnte das sein?

Meiner Mama ging es von Woche zu Woche schlechter. Mein schlechtes Gewissen, nicht die ganze Zeit vor Ort sein zu können wurde auch nicht gerade kleiner – auch wenn, vor allem mein Papa, aber auch meine beiden Schwestern vor Ort sich perfekt um meine Mama kümmerten.

Mein schlechtes Gewissen war auch präsent, wenn ich mich gefragt habe, wieso mir in solch einer Lebenssituation der Wettkampf überhaupt noch als wichtig erschien. Aber im Nachhinein kann ich sagen, dass das Training und die Vorbereitung auf diesen Wettkampf für mich auch Halt gab und ein Ventil für meine Wut über dieses Leben, welches manchmal so unfair sein kann, herauszulassen und zu kanalisieren – trotz aller akuter Umstände die mich im Training selbst oft Verzweifeln ließen – auch wenn ich in fast jedem Training wahnsinnig über mich selbst enttäuscht war, weil mein Körper für mich augenscheinlich unberechenbar wurde, weil ich das Gefühl hatte keine Kraft und keine Körperspannung mehr aufbauen zu können, habe ich trotzdem kein einziges Training abgebrochen. Ich habe alles so versucht zu machen wie es in dem Moment ging. Aber in dem Moment selbst, war ich für mich selbst die größte Versagerin.

Meine Mama ist zehn Tage vor der Landesmeisterschaft verstorben. Einen Tag vor dem Wettkampf war ihre Beerdigung. Neben all der Trauer, all der Unfassbarkeit, all der Wut über das Leben, wurde mein schlechtes Gewissen und die Frage über einen Start auf der Landesmeisterschaft immer größer. Darf ich das? Kann ich das? Was denken die anderen über mich?

Ich habe mir die endgültige Entscheidung bis zum Morgen des Wettkampfes offen gehalten. Gemeldet war ich eh – also konnte ich das spontan entscheiden. Wenn ich Lust hatte einfach nur im Bett zu bleiben und mir die Seele aus dem Leib zu weinen, dann mache ich das – wenn nicht, gehe ich auf den Wettkampf.

Ich bin zum Wettkampf gegangen und habe teilgenommen – das Ergebnis war nach außen natürlich nicht schlecht: ich wurde Landesmeisterin. Für mich selbst war es aber natürlich nicht zufriedenstellend – die Gewichte die ich bewegt hatte, waren nicht ansatzweise das was ich mir vorgestellt hatte und was vielleicht in einer anderen Situation möglich gewesen wäre… Aber trotzdem habe ich es gemacht und habe in dieser Situation versucht das Beste zu geben, was mir an diesem Tag möglich war.

Die „Vorbereitung“ auf diesen Wettkampf hängt mir bis heute noch teilweise nach. Wenn ich im Training genau das Gewicht auflegen muss, was ich auf der Bank nach dem Tod meiner Mama gefailed habe. Aber auch die Angst mein Körper könnte wieder „versagen“ und natürlich auch die Angst, was passiert beim nächsten Wettkampf. Als mir das zum ersten Mal passierte, wusste ich am Anfang gar nicht, warum ich jetzt schwitzige Hände bekam, mein Puls hochging und ich richtige Angst vor dem Arbeitssatz hatte. Bis mir auffiel, dass DAS Gewicht auflag, welches ich damals gefailed hatte. Aber zum Glück habe ich bisher nicht aufgegeben und solange das nicht passiert wird es weitergehen.

Sehr oft habe ich mir Gedanken und Sorgen darüber gemacht, ob ich das überhaupt „darf“ – „darf“ ich in so einer Zeit mich auf einen Wettkampf vorbereiten, „darf“ ich so oft trainieren gehen, sollte ich die Zeit nicht lieber anders nutzen. Aber dann habe ich mich auch oft gefragt, wie hätte ich helfen können? Ich war ja nicht wirklich vor Ort und auch wenn mein Training in dieser Zeit wirklich miserabel lief – dass ich es immer wieder versucht habe und statt 4×2 nur 3 Singles gebeugt habe, hat mir geholfen, Wut abzulassen, schlechte Energien freizulassen und wenigstens in dieser Zeit vielleicht – soweit es ging – auf andere Gedanken zu kommen.

Ich hatte und habe immer noch einige innere Kämpfe mit mir selbst – die Frage ob ich in dieser Situation richtig oder falsch gehandelt habe – gibt es überhaupt ein richtig oder falsch und wieso überhaupt beschäftigt mich das so sehr, wie es nach außen wirkt, was oder wie ich in dieser Situation handle oder gehandelt habe?

Das Training selbst und damit vor allem die Vorbereitung auf den Wettkampf war für mich wie eine Hassliebe. Auf der einen Seite gab es mir Halt in dieser unerträglichen Lebenssituation, auf der anderen Seite war die „Leistung“ die ich erbrachte nicht ansatzweise für mich zufriedenstellend.

Ich hatte das Gefühl, egal wie ich handle, egal wie ich mich entscheide – es war nie die richtige Entscheidung. Gab es diese richtige Entscheidung überhaupt ? Egal was ich tat, ich kam mir immer hilflos vor . Ich hatte doch zu funktionieren.

Das hat auch bis zu einem gewissen Grad geklappt. Im Nachhinein kam mir diese ganze Zeit einfach vor, wie in einem sehr schlechtem Film. Wut, Traurigkeit, Hoffnung und Hoffnungslosigkeit, nicht aufgeben, stark sein – alles kam zusammen – und nach außen hin versuchte ich immer die starke, strahlende Agnes zu sein – vor allem für die Menschen die nichts von meiner Situation wussten. Aber vielleicht ist es auch für mich an der Zeit zu lernen, dass es völlig ok ist, nicht immer die Starke zu sein, beziehungsweise als die Starke zu wirken.


Agnes Lepp
Sängerin & Vocalcoach & Powerlifterin

www.agneslepp.com

www.leppinskimusic.com